Der Totenerwecker (German Edition)
zerstört hatte, eingeschrumpft. Ihre Hände wirkten krumm wie Vogelkrallen, und an der linken Hand besaß sie nur noch zwei Finger. Sarah dachte an die schöne Frau auf dem Foto in Harrys Tasche. Diese Frau existierte nicht mehr.
»Dorothy? Diese Leute hier sind von der Polizei. Sie möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Ist das okay?«
Dorothy musterte die Besucher. Ihr Blick hielt bei Harry inne, dem sie ein mattes Lächeln schenkte und zunickte. Dann sah sie Sarah an und taxierte sie von oben bis unten. Obwohl so viel von dem Gesicht zerstört war, konnte Sarah die Qual in ihrer Miene erkennen. Die Frau sah wieder Harry an, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Er tut es wieder, hab ich recht? Macht er es mit ihr? Glauben Sie mir jetzt?«
Sie sprach überraschend ruhig und beherrscht und nicht in dem zusammenhanglosen, halb verständlichen Gekeife, mit dem Sarah gerechnet hatte. Ihre Stimme klang tief und rau, als hätte sie jahrzehntelang geraucht und Whisky getrunken. Sie passte nicht zu der Frau, die Sarah von dem Foto kannte. Es war eine sinnliche, bluesige Stimme. So gar nicht die Stimme einer grausam verunstalteten Frau im Tagesraum einer psychiatrischen Anstalt.
»Es tut mir leid, Dorothy. Ich wollte Ihnen glauben, das wissen Sie. Ich habe versucht, den Fall so lange offenzuhalten, wie ich konnte.«
»Ich weiß, Harry. Sie waren immer sehr freundlich, auch hinterher.« Sie gestikulierte in Richtung der Narben in ihrem Gesicht und der unzähligen weiteren, die unter ihrer Kleidung verborgen waren. Sarah kniete sich neben Dorothys Stuhl und streckte die Hand aus.
»Mein Name ist Sarah Lincoln. Dale McCarthy wohnt bei uns gegenüber auf der anderen Straßenseite. Seit er eingezogen ist, brach er jede Nacht in unser Haus ein und hat mich und meinen Mann Josh vergewaltigt und ermordet. Wir werden ihn finden, und wir werden ihn töten.«
Dorothy starrte Sarahs Hand einen Moment lang an, dann griff sie mit ihrer Rechten danach und drückte sie fest. Sie blickte zu den beiden anderen Polizisten auf. »Wer sind die?«
»Detective Trina Lassiter und Detective Mike Torres.«
»Noch mehr Polizei? Warum? Und wie haben Sie sie dazu gebracht, Ihnen zu glauben?«
»Ich habe ein Video.«
Die Augen der Frau weiteten sich.
»Sie-Sie haben ein Video? Kann ich es sehen? Was ist drauf?«
»Es zeigt Dale, wie er in ihr Haus einbricht, Sarah und Josh mit einem Hammer auf den Kopf schlägt, sie beide vergewaltigt und dann ersticht«, sagte Harry. »Dann hat er sie offenbar wiederbelebt oder wiedererweckt.«
»Sie beide?«
Dorothy sah Josh an. Er wich ihrem Blick aus.
»Wie? Ich meine, wie holt er sie zurück ins Leben? Wie stellt er das an?«
»Er atmet in ihren Rachen wie bei einer Mund-zu-Mund-Beatmung, und dann werden sie geheilt, einfach so. Ihre Verletzungen verschwinden, und sie fangen wieder an, zu leben.«
»Und das haben Sie auf Band? Alles?«
»Ja. Es ist komplett auf dem Video.«
»Aber er ist entkommen und läuft noch frei herum?«
»Ja.«
»Warum sind Sie dann hier? Er ist doch nicht hier, oder?«
Dorothy sah sich mit panikerfülltem Blick um und versuchte, sich aus dem Stuhl hochzuschieben. Harry legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft hinab.
»Nein, er ist nicht hier. Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich mich geirrt habe und dass es mir leidtut und ich es wiedergutmachen werde. Ich werde ihn schnappen. Dem Ganzen endlich ein Ende bereiten.«
»Darf ich Sie etwas fragen, Dorothy?«
Dorothy sah Sarah an, die noch immer neben dem Stuhl kniete. »Ja?«
»Was hat er mit Ihnen gemacht?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich kaum noch an etwas erinnern. Immer wieder bin ich mit diesen Bildern im Kopf aufgewacht, mit diesen entsetzlichen Bildern, dass ich vergewaltigt wurde, erstochen, bei lebendigem Leibe gehäutet. Aber dann verschwanden sie wieder, und ich konnte mich an nichts erinnern. Ich hatte den ganzen Tag das Gefühl, missbraucht und verletzt worden zu sein, aber ich wusste nicht, warum. Ich hatte furchtbare Angst, vor allem, wenn ich Dale auf der Arbeit sah.
Irgendwann fing ich an, ein Traumtagebuch zu führen. Sobald ich wach wurde, schrieb ich alles auf, woran ich mich erinnerte. Einige der Dinge waren ... sie waren einfach unvorstellbar. Ich hätte nie geglaubt, dass jemand fähig ist ... Einige der Dinge, die ich träumte, waren wirklich unmenschlich. Eines Nachts legte ich dann einen Kassettenrekorder unter mein Bett und nahm alles auf. Es war
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