Der Totengarten
niedrige Reihen Gemüse. Eine mittelgroße Person unbestimmten Alters überquerte gerade das Gelände. Männlich, schwarz, dachte Holiday, während er die Bewegungen der Gestalt mit halboffenen Augen beobachtete. Holiday blinzelte träge. Sein Blick wurde verschwommen, und er sank erneut in Schlaf.
Er erwachte wieder, verwirrt, aber nur für kurze Zeit. Inzwischen fühlte er sich wieder nüchtern. Der Himmel war ein wenig heller geworden, Schwalben segelten über den Gärten und kündigten singend den nahen Morgen an. Er warf einen Blick auf die Uhr: vier Uhr dreiundvierzig.
»O Gott«, stöhnte Holiday.
Sein Hals war steif. Er musste dringend ins Bett. Aber vorher wollte er sich erleichtern. Er nahm eine kleine Maglite aus dem Handschuhfach und stieg aus.
Im Schein der Taschenlampe folgte Holiday einem Pfad. Dann klemmte er die Mini-Mag zwischen die Zähne, öffnete seinen Hosenstall und pinkelte auf den Boden. Dabei sah er sich ein wenig um. Als er den Kopf drehte, fiel der Lichtstrahl der Lampe auf etwas, das wie eine menschliche Gestalt aussah. Sie war bewusstlos oder schlief am Rand eines Gemüsegartens mit längst abgeernteten Tomatenpflanzen. Als Holiday fertig war und den Reißverschluss wieder hochgezogen hatte, ging er zu der Gestalt und richtete die Taschenlampe direkt auf sie.
Holiday zog die Unterlippe zwischen die Zähne und ging in die Hocke. Jetzt, aus nächster Nähe und im Schein der Lampe, erkannte er deutlich, wer da lag: ein junger Schwarzer, schätzungsweise fünfzehn, in dicker Winterjacke, T-Shirt, Jeans und Nike-Turnschuhen. An der linken Schläfe klaffte eine Schusswunde, an der das Blut bereits halb geronnen war. Die Schädeldecke des jungen Mannes war, von der austretenden Kugel zertrümmert, ein einziger Brei aus Blut und Gehirnmasse. Seine Augen waren durch die Wucht des Schusses hervorgetreten. Holiday ließ den Lichtstrahl über den Boden gleiten. Er beleuchtete den Weg und den Garten, aber selbst in weitem Umkreis entdeckte er weder eine Patronenhülse noch eine Waffe.
Als er die Taschenlampe noch einmal auf den jungen Mann richtete, entdeckte er eine kleine Karte, die an einer Kette um seinen Hals hing und mit der beschrifteten Seite nach oben auf dem T-Shirt lag, dort, wo die Jacke auseinandergeschlagen war. Es war anscheinend eine Art Namensschild oder Ausweis. Blinzelnd las Holiday die Aufschrift.
Anschließend richtete er sich wieder auf, wandte sich ab und ging vorsichtig zu seinem Wagen zurück. Die Oglethorpe Street war menschenleer. Holiday startete den Town Car, wendete und fuhr ohne Licht bis zur Blair Road. Dort wartete er ab, bis kein anderes Fahrzeug in Sicht war, schaltete die Scheinwerfer ein und bog nach rechts ab, in Richtung des 7-Eleven an der Kansas. Dort gab es ein Münztelefon, doch der Parkplatz war zu hell beleuchtet und von der Straße aus zu gut einsehbar, deshalb fuhr er ein Stück weiter bis zu dem geschlossenen Spirituosenladen an derselben Straße, auf dessen fast dunklem Gelände es ebenfalls ein Münztelefon gab. Von dort aus wählte er, mit dem Rücken zur Straße, die Notrufnummer. Die Frau von der Notrufzentrale forderte ihn mehrfach auf, seinen Namen zu nennen und den Ort, von dem aus er anrief, doch Holiday fiel ihr einfach ins Wort und erklärte, in dem Gemeindegarten nahe der Kreuzung von Blair und Oglethorpe Street liege eine Leiche. Die Frau versuchte weiterhin hartnäckig, seine Personalien zu erfragen, bis Holiday einfach auflegte. Er kehrte rasch zu seinem Wagen zurück, fuhr vom Parkplatz des Spirituosenladens und steckte sich im Fahren eine Zigarette an. Etwas an diesem Toten kam ihm vertraut vor, ohne dass er hätte sagen können, was. Es verunsicherte ihn und erfüllte ihn gleichzeitig auf seltsame Weise mit Spannung.
In seinem Apartment angekommen, legte er sich ins Bett, konnte jedoch nicht einschlafen. Als das erste Sonnenlicht durch die Jalousien drang, starrte er noch immer an die Decke. Aber statt der Decke sah er sich selbst als jungen Mann in Uniform in einem Gemeindegarten, ganz ähnlich dem, aus dem er soeben gekommen war. In seiner Erinnerung war auch T.C. Cook vom Morddezernat dort, mit Mantel und Hut. Holiday sah den Verbrechensschauplatz vor sich, erhellt von den rotierenden Blinkleuchten auf den Streifenwagen und den gelegentlichen Blitzlichtern der Kameras.
Es war, als betrachtete er im Geiste ein Foto. Er konnte die Lichter sehen, die Weißhemden, die den Einsatz leiteten, den Reporter von Channel 4 und ganz
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