Der Totenleser
den »Unfall opfern« finden sich oft Seile und Ketten, mit denen sie sich selbst gefesselt haben, sehr häufig im Genitalbereich, manche sind zusätzlich geknebelt. Das Ganze spielt sich ausschließlich in der Privatsphäre ab, geschützt vor ungebetenen Besuchern oder Zeugen. Die meisten toten Autoerotiker, die von uns untersucht werden, tragen weibliche Kleidung, meist Reizwäsche. Häufig stammt das Outfit aus dem Warenangebot von Erotikshops – von Korsetts und Korsagen über hautenge Ganzkörperanzüge mit Entblößung der Genitalregion bis zu ledernen Gesichtsmasken, wie man sie aus der Sadomaso-Szene kennt. Typische Hilfsmittel sind Haken an der Decke oder viel komplexere Aufhängevorrichtungen, manchmal ganze Flaschenzugkonstruktionen oder sogar elektrische Seilzüge, mit denen sich die Betreffenden in die hängende Position bringen.
Von einem autoerotischen Unfall sprechen wir nur dann, wenn das Opfer sämtliche Manipulationen wie Drosselung, Hängen und Fesselungen nachweislich selbst vorgenommen hat – egal, ob mit oder ohne Zuhilfenahme von Sexspielzeugen. Ist eine andere Person anwesend, handelt es sich definitionsgemäß nicht um einen autoerotischen Unfall, egal, ob der oder die Betreffende aktiv beteiligt ist oder nur zusieht.
Bereits in seinem Ende des 18. Jahrhunderts erschienenen Roman »Justine oder das Unglück der Tugend« beschreibt der Marquis de Sade eine Szene, in der seine Protagonistin zugegen ist, als ein Mann namens Roland sich mittels eines Seiles um seinen Hals bis zur Ejakula tion stranguliert. Auch haben sich, damals wie heute, einzelne Prostituierte auf die kontrollierte Strangulation ihrer Kunden spezialisiert. So war der Hanged Men´s Club , ein Londoner Bordell im viktorianischen England, über viele Jahre und weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt dafür, dass sich die Freier dort unter »kontrollierten Bedingungen« aufhängen lassen konnten, während die Prostituierten ihnen oral oder per Hand zu Diensten waren.
Die Szenerie am Leichenfundort von Christian Blank sprach in vielerlei Hinsicht für einen autoerotischen Unfall – der Kopf in der von der Decke hängenden Hundeleine, die Positionierung vor dem verspiegelten Schrank und natürlich die Verkleidung inklusive Penisring und Ledergeschirr um die Hoden. Obwohl also weder aus kriminalistischer noch aus rechtsmedizinischer Sicht ein Zweifel daran bestand, dass wir es hier mit einem autoerotischen Unfall zu tun hatten, erwirkte die zuständige Staatsanwältin eine richterliche Obduktionsanordnung. Grund war neben der halb geöffneten Balkontür die recht große Summe Bargeld auf dem Nachttisch, deren Herkunft bisher nicht ermittelt werden konnte.
Am Morgen des nächsten Tages lag der tote Christian Blank vor mir auf dem Sektionstisch. Neben der Staatsanwältin war auch der Kriminaloberkommissar zu gegen.
Unser Hauptinteresse galt dem Gegenstand, den icham Tag zuvor bei der äußeren Leichenschau im Mund des Toten entdeckt hatte. Inzwischen hatte sich die Leichenstarre so weit gelöst, dass ich mit Zeigefinger und Daumen in den Mund fassen konnte – und einen schwarzen Gummiball von der Größe eines Golfballs zutage förderte. Der Gummiball war aufblasbar und gehörte zu einem nicht nur in Homosexuellenkreisen verwendeten Sex Toy , einem aufblasbaren Analdildo. Die übrigen Teile der Konstruktion – Gummischlauch und Blasebalg – hatten wir bereits am Tag zuvor unter dem Bett entdeckt; sie lagen jetzt in der Asservatentüte am Fußende des Obduktionstisches. An dem Gummiball aus dem Mund des Toten fand sich wie erwartet das dazugehörige Gegenstück zu dem kleinen Schraubgewinde an dem Schlauch. Zur Rekonstruktion des Geschehens verschraubte der Oberkommissar den Gummiball mit dem Schlauch, und ich legte den Ball zurück in den Mund des Toten. Die Funktionsweise des Sexspielzeugs war uns aus zahlreichen Fällen hinlänglich bekannt: Über den Blasebalg lässt sich der Ball am anderen Ende auf etwa Tennisballgröße aufpumpen. Dreht man den Blasebalg an seinem Schlauchende um 180 Grad, saugt man bei erneutem Pumpen die Luft wieder heraus. Ich hatte so eine Ahnung, was passiert war, und pumpte den Ball im Mund des Toten so weit auf, dass er die gesamte Mundhöhle ausfüllte. Anschließend zog ich kräftig an Blasebalg und Schlauch. Mit einem leisen Klicken löste sich der Gummischlauch trotz des hier angebrachten Schraub gewindes von dem Ball, der ungeachtet dessen nur sehr langsam seine Luft verlor.
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