Der Totenleser
sich, was sein Vater wohl an seiner Stelle getan hätte und fühlte einen Druck auf der Brust. Immer, wenn er eine wichtige Entscheidung fällen musste, tauchte der Geist des Alten auf, um ihn zu quälen. Er erinnerte sich an die Jahre, in denen sein Vater ehrlich und geachtet gewesen war, die Jahre, in denen er ihm geholfen und ihn ermutigt hatte, sich den Kaiserlichen Prüfungen zu unterziehen, und er sehnte sich nach jemandem wie Richter Feng, auf den er sich stützen könnte.
Ein Stoß von Grauer Fuchs riss ihn aus seinen Gedanken. Ci sah auf. Mit arroganter Miene stand der Kommilitone vor ihm und drängte ihn, sich zu erheben.
Zum ersten Mal betrat er das private Arbeitszimmer von Meister Ming. Überrascht stellte er fest, wie düster der Raum war, in dem es weder Fenster noch Sichtblenden aus Papier gab, die etwas Licht hereingelassen hätten. An den dunklen Holzwänden waren nur mit Mühe einige Seidenbilder zu erkennen, groteske Zeichnungen von menschlichen Gestalten, die verschiedene Bereiche ihrer Anatomie zur Schau stellten. An einem Tisch aus schwarzem Ebenholz sitzend, empfing der Professor seine Prüflinge. Hinter ihm zeigte ein von kleinen Laternen beleuchtetes Wandbrett eine unheimliche Sammlung von Totenschädeln. Grauer Fuchs trat als Erster näher. Mit Mings Erlaubnis kniete er sich vor dem Tisch hin, und Ci tat es ihm nach. Das müde Gesicht des Meisters spiegelte seinen Überdruss wider.
»Ich hoffe, wenigstens ihr beide verfügt über das kleine bisschen Verstand, der euren Mitstudenten zu fehlen scheint. So viel Unsinn auf einmal habe ich in meinem ganzen Leben nicht gehört! Worauf wartet ihr? Fangt an.«
Grauer Fuchs räusperte sich. Seine hochmütige Miene hatteer draußen gelassen. Er holte seine Notizen hervor und begann.
»Hochverehrter Weiser, ich danke Euch mit aufrichtiger Demut für die Gelegenheit …«
»Du kannst dir deine Unterwürfigkeiten sparen. Bitte, fang endlich an«, unterbrach ihn Ming.
»Meister«, hüstelte Grauer Fuchs. »Ich überlege, ob Ci nicht besser draußen warten sollte. Wie Ihr wisst, darf ein zweiter Richter sein Urteil niemals durch die Kenntnis der Schlussfolgerungen des ersten beeinflussen lassen.«
»Bei allen Göttern, Grauer Fuchs! Wirst du bald anfangen?«
Der Musterschüler räusperte sich abermals. Dann legte er seine Notizen auf den Boden und sah Ming an.
»Meister, bevor wir uns den Kopf über die Todesursache zerbrechen, sollten wir uns nach dem Grund all dieser Vorsichtsmaßnahmen fragen. Bei anderen Gelegenheiten war eine derartige Zurückhaltung nicht notwendig, was mich zu der Annahme führt, dass der Tote eine Person von gewisser Bedeutung gewesen sein muss, oder mit einer Person von gewisser Bedeutung in Kontakt gestanden hat.«
»Fahre fort«, sagte Ming aufhorchend.
»In dem Fall wäre die nächste Frage, warum die Behörden sich für die Meinung von ein paar Studenten interessieren. Wenn sie Vertraulichkeit wünschten, ließe sie sich am besten bewahren, indem sie uns nicht mit einbezögen, und das heißt, dass sie nicht oder wenigstens nicht mit Sicherheit wissen, was geschehen ist.«
»In der Tat, das könnte zutreffen.«
»Was den Beruf und die soziale Stellung des Verstorbenen angeht, fehlen uns wichtige Hinweise, weil wir keine Informationen über seine Kleidung haben, doch das Fehlen vonSchwielen an seinen Händen lässt auf eine administrative Arbeit schließen, während seine stumpfen Fingernägel gegen eine literarische Bildung sprechen.«
»Eine interessante Beobachtung …«
»Das finde ich auch.« Grauer Fuchs lächelte unverhohlen. »Und als Letztes kann im Hinblick auf die Todesursache festgestellt werden, dass die Leiche keine Anzeichen von Gewalteinwirkung aufweist, weder blaue Flecke noch Wunden oder Zeichen einer Vergiftung. Es gibt auch keine Ausscheidungen aus einer der sieben natürlichen Körperöffnungen, die einen von außen herbeigeführten Tod belegen könnten und die, falls vorhanden, trotz der Reinigung mit Wasser in Gestalt von winzigen Spuren zurückgeblieben wären. Daher müssen wir annehmen, dass der Tod des Mannes erst nach seinem Sturz in den Kanal eingetreten ist. Meiner Meinung nach spielt das Ertrinken eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, dass es nach einem Zechgelage erfolgte, was sich daran ablesen lässt, dass er mit einem Schnapskrug in der Hand gefunden wurde.«
»Aha.« Mings Gesichtsausdruck wechselte vom Interesse zur Enttäuschung. »Deine Schlussfolgerung lautet
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