Der Totenleser
also?«
»Ja, verehrungswürdiger Meister«, stotterte der Lange, als er den Unmut des Professors bemerkte. »Wie ich schon sagte, der Unglückliche arbeitete bestimmt an irgendeiner wichtigen Sache. Sein völlig unerwarteter Tod hat Unannehmlichkeiten bereitet, und man will sichergehen, dass es wirklich ein Unfall war.«
Ming setzte nun eine gelangweilte Miene auf. Bis auf die Äußerungen über die soziale Stellung des Verstorbenen war das, was Grauer Fuchs vorgetragen hatte, nicht mehr als ein Abklatsch der Beobachtungen seiner Studienkollegen. Der Professor dankte ihm für seine Mühe und wandte sich an Ci.
»Du bist dran«, sagte er ohne Überzeugung.
»Wenn wir seine Kleidung untersuchen könnten … Oder mit demjenigen reden, der ihn gefunden hat …«, warf Grauer Fuchs dazwischen.
»Du bist dran, Ci«, wiederholte Ming.
Ci erhob sich. Er hatte seinem Kommilitonen aufmerksam zugehört und bedauerte, dass der ihm mit einigen zutreffenden Schlussfolgerungen zuvorgekommen war. Bis dahin hatte er genau diese Funde oder ein bisschen mehr erwähnen und seine furchtbare Entdeckung für sich behalten wollen. Doch wenn er sich darauf beschränkte, die Worte seines Mitschülers nachzubeten, würde er vor Ming wie ein Dummkopf dastehen. Trotzdem versuchte er es.
Als er geendet hatte, zog der Meister eine Augenbraue hoch. Er wartete offenbar, dass Ci weitersprach, doch der blieb stumm.
»Das ist alles?«
»In Anbetracht der Untersuchungsergebnisse kann ich nicht mehr sagen. Was Grauer Fuchs vorgetragen hat, entbehrt keineswegs der Grundlage.« Er strengte sich an, überzeugend zu klingen. »Im Gegenteil, seine Ausführungen erweisen sich als scharfsinnig und präzise, sie stimmen mit dem überein, was ich gesehen und ertastet habe.«
»Dann solltest du besser aufpassen, denn wir behalten dich nicht an unserer Akademie, damit du irgendwelches Zeug nachplapperst wie ein Papagei.« Ming schwieg einen Moment. »Und erst recht nicht, damit du uns betrügst!«
»Ich verstehe Euch nicht.« Ci wurde rot.
»Wirklich nicht? Sag, hältst du mich für einen Idioten?«
Ci spürte, wie seine Wangen glühten. Er wusste nicht, worauf genau Ming sich bezog, aber er nahm an, dass er es in Kürze erfahren würde.
»Ich verstehe Euch nicht …«, stammelte er abermals.
»Bei allen Göttern! Hör auf zu schauspielern! Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du etwas im Ohr des Toten entdeckt hast? Meinst du, ich hätte nicht mitbekommen, was du beim Zudecken des Leichnams getan hast?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet«, log Ci.
Zornig richtete Ming sich auf.
»Hinaus! Aber sofort!«, schrie er.
Während sie aus dem Raum flohen, hörten sie ihn »verdammter Lügner« rufen.
* * *
Ci verbrachte den Nachmittag mit Grübeleien. Wie sollte er diese unerträgliche Situation lösen? Stunde um Stunde saß er vor seinen Aufzeichnungen, und das Einzige, was ihm einfiel, war, seinen Traum aufzugeben und Lin’an zu verlassen. Doch er blieb weiter in der Bibliothek und zermarterte sich das Hirn. Endlich nahm er einen Pinsel und begann zu schreiben. Ohne zu wissen, ob er den Bericht je abgeben würde, übertrug er eine ganze Weile jede Einzelheit von dem, was er herausgefunden hatte, auf einen ordentlichen Bogen Papier. Er beneidete Grauer Fuchs, den er mit den anderen Schülern hatte scherzen sehen, einen Schnapskrug in der Hand, als könnte er den Misserfolg genauso schnell schlucken wie den Alkohol. Kurz vor dem Abendessen kam sein Zimmergenosse auf ihn zugetorkelt. Seine Augen glänzten ebenso wie sein feuchtes Grinsen. Er schien zufrieden, bot ihm sogar einen Schluck Schnaps an, doch Ci lehnte ab und steckte hastig seinen Bericht weg.
»Los, Alter«, lallte er. »Vergiss diese Prüfung und trink was.«
Ci wunderte sich über die Wirkung, die der Schnaps auf manche Menschen hatte. Seit seinem Eintritt in die Akademie war es das erste Mal, dass sein Mitbewohner ihn ansprach, ohne ihn zu beschimpfen. Er lehnte dennoch ab, aber Grauer Fuchs ließ nicht locker.
»Weißt du was? Ich muss dir gestehen, dass ich dich bis heute Nachmittag gehasst habe … Der kluge Ci … Der intelligente Ci …« Er nahm einen neuen Schluck. »Aber, beim Erleuchteten, heute warst du nicht klüger. Ich erinnere mich noch an deine Worte: ›Was Grauer Fuchs vorgetragen hat, entbehrt keineswegs der Grundlage. Im Gegenteil, seine Ausführungen erweisen sich als scharfsinnig und präzise, sie stimmen mit dem überein, was ich gesehen und ertastet
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