Der Totenleser
biss sich auf die Zunge. Er wandte seinen Blick wieder den Berichten zu und begann sie durchzusehen. Als er fertig war, schlug er den Ordner zu und schob ihn seufzend beiseite. Ein Bauer hätte diese Berichte schreiben können.
»Exzellenz.« Ci stand auf und holte tief Luft. »Ich brauche einen geeigneten Raum, um die Leichen gründlich zu untersuchen, und all meine Arbeitsgeräte. Wenn möglich, noch heute. Und ich brauche einen Parfümeur. Den besten von ganz Lin’an. Er soll bei meiner Untersuchung zugegen sein.« Ci ließ sich von der Überraschung Kans nicht aus der Ruhe bringen. »Und im Fall, dass es neue Morde gibt, soll man mich umgehend informieren, unabhängig von Ort und Zeitpunkt des Fundes. Der Leichnam darf weder berührt, bewegt noch gesäubert werden, bevor ich eingetroffen bin. Nicht mal ein Richter darf ihn anfassen. Wenn es Zeugen gibt, sollen sie getrennt voneinander festgehalten werden. Der beste Porträtmaler soll beauftragt werden. Nicht einer von denen, die die Gesichter der Fürsten verschönern, sondern einer, der es versteht, die Realität abzubilden. Und ich muss alles wissen, was man über diesen Eunuchen weiß: Welche Stellunghatte er im Palast, welche Vorlieben hatte er, welche Laster, welche Schwächen und Stärken? Ob er männliche oder weibliche Geliebte hatte, ob er familiäre Bindungen hatte, welche Reichtümer er besaß und mit wem er sich traf. Ich muss wissen, was er aß, was er trank, und sogar, wie viel Zeit er auf dem Abort verbrachte. Weiterhin wäre mir eine Liste mit allen taoistischen, buddhistischen, nestorianischen und manichäistischen Sekten nützlich, gegen die wegen Okkultismus, Hexerei oder illegaler Akte ermittelt worden ist. Und zuletzt möchte ich eine vollständige Aufstellung aller mysteriösen Todesfälle, die in den letzten sechs Monaten aufgetreten sind, sowie jeder Anzeige, jedes Verschwindens, jedes Zeugen, der, auf welch entfernte Weise auch immer, mit diesen Morden in Verbindung stehen könnte.«
»Bo wird sich um alles kümmern«, sagte Kan knapp.
»Es wäre auch praktisch, einen Grundriss des Palastes zu haben, auf dem die verschiedenen Gebäude und ihre Funktionen verzeichnet sind und die, zu denen ich Zutritt habe.«
»Ich werde versuchen, einen Maler aufzutreiben, der ihn für dich erstellt.«
»Eine letzte Sache noch.«
»Ja?«
»Ich werde Hilfe brauchen. Ich kann das nicht alleine lösen. Meister Ming könnte …«
»Darum habe ich mich bereits gekümmert. Jemand deines Vertrauens, hoffe ich.«
Der Strafrat erhob sich, klatschte in die Hände und wartete. Kurz darauf hörte Ci ein Quietschen am Ende des Ganges. Eine hochgewachsene Silhouette kam auf sie zu. Ein kalter Schauer überlief Ci, als er das lächelnde Gesicht von Grauer Fuchs erkannte.
»Exzellenz, entschuldigt meine Nachdrücklichkeit«, stammelte Ci, »aber ich glaube nicht, dass dieser Mann die geeignetste Person ist. Ich würde lieber …«
»Jetzt reicht es mit den Ansprüchen! Dieser Richter hat sich mein Vertrauen verdient, etwas, wovon du noch weit entfernt bist, darum halte lieber den Mund und arbeite. Du wirst jede Entdeckung mit ihm teilen, genauso wie er es auch mit dir halten wird. Solange diese Untersuchung dauert, wird Grauer Fuchs mein Mund und meine Ohren sein, also arbeite lieber mit ihm zusammen.«
»Aber dieser Mann hat mich hintergangen. Er wird niemals …«
»Wirst du wohl schweigen!«, zischte Kan. »Er ist der Sohn meines Bruders, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen!«
* * *
Grauer Fuchs wartete, bis Kan sich zurückgezogen hatte. Dann lächelte er Ci schief an.
»So sieht man sich wieder.«
»Ein Unglück wie jedes andere«, gab Ci zur Antwort, ohne ihn anzusehen.
»Wie du dich verändert hast! Totenleser des Kaisers …«, stichelte er. Er nahm den Ordner und setzte sich.
»Und du bringst immer noch alles an dich, was dir in den Weg kommt.« Ci riss ihm die Berichte aus der Hand.
Grauer Fuchs sprang auf, Ci trat auf ihn zu. Ihre Nasen berührten sich beinahe, keiner von beiden wich zurück.
»Weißt du, das Leben ist voller Zufälle«, sagte Grauer Fuchs. »Mein erster Auftrag, als ich bei Hofe anfing, war es, den Tod dieses Fahnders, Kao, zu untersuchen. Der, den wir zusammen in der Präfektur begutachtet haben.«
Ci überlief es kalt.
»Ja, und?«
»Es ist seltsam. Je mehr ich über ihn herausfinde, desto eigenartiger erscheint mir die ganze Sache. Wusstest du, dass er aus Fujian bis hierher gereist ist, um einen Flüchtigen zu
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