Der Totenleser
Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte er die Silhouette Fengs. Ci stammelte etwas, bevor die Beine unter ihm nachgaben. Feng fing ihn auf, riss ihm die Decke vom Leib und bedeckte ihn mit seiner Jacke.
»Was haben sie dir angetan, Junge?«
Feng unterschrieb das Dokument, mit dem er für Ci bürgte, und setzte sein Siegel darunter. Zusammen mit seinem mongolischen Diener schleppte er Ci zurück in den Seerosenpavillon.
Feng befahl, dass man Ci in sein Schlafzimmer brachte. Sie legten den Jungen in Fengs Bett und deckten ihn mit einem Laken zu. Kurze Zeit später erschien ein Akupunkteur. Mit Hilfe des Mongolen reinigte der Arzt Cis Wunden. Dann tastete er seine Rippen ab, kontrollierte seine Atmung und untersuchte die Wunde am Kopf.
»Er hat Glück gehabt«, hörte Ci ihn sagen. »Nichts ist gebrochen. Er braucht jetzt vor allen Dingen Ruhe und gute Pflege.«
Als der Akupunkteur fort war, zog Feng die Vorhänge zu, um das Licht zu dämpfen, und setzte sich neben Ci. Er schüttelte den Kopf.
»Diese Bastarde! Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, Ci. Heute Morgen habe ich früh das Haus verlassen, um einige Angelegenheiten zu regeln, und als ich den Kaiser sprechen wollte, war mir Grauer Fuchs bereits zuvorgekommen. Nin Zong informierte mich, dass Grauer Fuchs nach einer zweiten Untersuchung der Leiche herausgefunden habe, dass Kan umgebracht worden sei. Er beschuldigte dich mit einer Vehemenz, die den Kaiser offenbar überzeugte. Wie ich gehört habe, war er in Begleitung eines verlausten Wahrsagers, der dich für den Tod eines Fahnders verantwortlich machte.«
»Aber … ich war es doch, der herausgefunden hat …«
»Und dank dieser Tatsache konnte ich erreichen, dass man dich freiließ! Ich versicherte dem Kaiser, dass du mir gestern dieselben Erkenntnisse mitgeteilt hättest:das Detail der Truhe, der Abrieb am Strick,der Inhalt des Schuldeingeständnisses …Ich musste mein Wort und meine Ehre einsetzen, um die vorläufige Verfügung zu erwirken, die dich unter meine Obhut stellt. Eine persönliche Garantie im Austausch gegen ein Ultimatum. Morgen ist die Verhandlung.«
»Verhandlung? Man glaubt Euch also nicht?«
»Ich will dir nichts vormachen, Ci.« Feng senkte den Kopf. »Grauer Fuchs setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um ein Motiv zu finden, das dich belastet. Als er erfuhr, dass der Kaiser dir einen Posten in der Verwaltung versprochen hatte, solltest du den Fall lösen, hat er argumentiert, dass Kans Tod die simpelste Art gewesen sei, um dein Ziel zu erreichen. Und dann ist da noch dieser Wahrsager, der dir einen weiteren Mord zur Last legt.«
»Das ist eine Verleumdung! Ihr wisst genau, dass …«
»Das Problem ist nicht, ob ich es weiß«, unterbrach ihn Feng. »Das Problem ist, was sie glauben, und das Entscheidende ist, dass wir keine Beweise für deine Unschuld haben. Du warst im Besitz eines Siegels, das dir erlaubte, überall ein und aus zu gehen, auch in dem Flügel, in dem die Privatgemächer Kans liegen. Und mehrere Zeugen haben dich mit ihm streiten hören, darunter der Kaiser höchstpersönlich.«
»Genau. Und außerdem habe ich drei Männer enthauptet, die ich nicht einmal kannte …«
»Ci, morgen wird niemand über die Verbrechen an ein paar armen Teufeln urteilen. Es wird um den Mord am Strafrat gehen: Man wird dich der Konspiration gegen den Kaiser anklagen. Und solange wir nicht das Gegenteil beweisen, giltst du als der Mörder.«
Ci kämpfte mit den Tränen. In seinem Kopf drehte sich alles, und die Spuren, die er gefunden hatte, wirbelten wild durcheinander. Außerdem lag sein Notizbuch zusammen mit seinen restlichen Sachen in der Akademie, in der Obhutvon Mings Diener. Er bat Feng, einen Moment ausruhen zu dürfen. Als er allein war, schloss er die Augen und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er hatte Angst. Er hatte dem schrecklichen Sterben seines Bruders zugesehen, und er wollte nicht so enden wie er. Doch bevor seine Erinnerung ihn noch weiter quälen konnte, überwältigte ihn die Erschöpfung. Er fiel in einen tiefen Schlaf.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte, als er Stimmen hörte, die von draußen hereindrangen. Er setzte sich auf, alles um ihn herum schien zu wanken. Mit unsicheren Schritten tappte er zum offenen Fenster. Von dort konnte er etwas beobachten, das ihn stutzig machte: Zwei Gestalten unterhielten sich gedämpft miteinander und blickten sich immer wieder um, als fürchteten sie, entdeckt zu werden. Sein Herz begann
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