Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Overtown. Ich meine, auf der 2nd in Overtown.«
»Haben Sie dem Detective das erzählt?«
»Natürlich. Aber der hat sich überhaupt nichts aufgeschrieben. Und er hat mich auch nicht zurückgerufen. Ich habe ihm sechs- oder siebenmal eine Nachricht hinterlassen.« Polk blickte missbilligend drein. Er war ein kahlköpfiger Mann von mittlerer Größe, seine graue Brustbehaarung kringelte sich aus dem Ausschnitt seines gelben Poloshirts, seine Bartstoppeln waren grau meliert.
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte Joe und meinte es auch so.
»Sie sind einer von den Guten, das weiß ich, das sehe ich. Sie haben Ihr Buch rausgeholt.« Emmanuel sah ihn an, stockte kurz und zog die Stirn in Falten. »Seit 65 schneide ich den Leuten hier jetzt schon die Haare. Ich habe Jungs zu Männern heranwachsen und die Männer alt werden sehen. Den ganzen Bauarbeitern, die Baldwin gebaut haben, habe ich die Haare geschnitten. Und wissen Sie was: Neptune war der beste Angestellte, den ich je hatte. Ach, noch viel besser. Ich habe noch keinen Neuen für ihn eingestellt, weil, na ja, vielleicht kommt er ja wieder. Genau da arbeitet er.« Er zeigte auf den Stuhl zur Linken. »Früher war das meiner, aber ich habe ihn Neptune überlassen, weil der bei allen Leuten so beliebt war.«
Emmanuel hielt inne und schaute einen langen Moment in den leeren Raum hinter dem Stuhl, als sähe er Neptune dort. Dann sah er sein eigenes, trauriges Gesicht im Spiegel, sah Joe, der ihn beobachtete, und straffte sich.
»Sie haben hier in der Gegend nicht zufällig einen großen, dicken Mann mit Hut gesehen?«, fragte Joe.
»Nein.«
Joe trat hinter den Stuhl, um sich Neptunes Arbeitsplatz anzusehen. Hinter dem Spiegel steckte ein Farbfoto: fünf Menschen – vier Frauen, in der Mitte ein Mann -, die eng beieinanderstanden, die Arme einander um die Schultern gelegt.
»Ist das Neptune?«, fragte Joe und zeigte auf den Mann.
»Das ist er. Sehen Sie, wie er da lächelt? So war er immer. Ich habe ihn nie unglücklich gesehen. Und das Mädchen da neben ihm …«, Emmanuel zeigte auf die auffallend schöne dunkelhäutige Frau mit dem langen, glatten Haar, »… das ist Crystal. Wahrscheinlich der Grund, dass er so glücklich ist. Und die Frau da neben ihr, das ist seine Cousine Madeleine.« Madeleine Cajuste war groß und korpulent, sie trug eine Brille und schulterlanges, dauergewelltes Haar. Emmanuel zeigte auf die beiden anderen Frauen: eine ältere in grüner Bluse und ein jüngeres Mädchen mit einem dunkelblauen T-Shirt, auf dem Port of Miami stand. »Das ist Neptunes Tante, Madeleines Mutter, die Kleine daneben ist seine Cousine. Ich glaube, die Tante heißt Ruth.«
»Ich würde das gern mitnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Joe. »Ich sorge auch dafür, dass Sie es zurückbekommen.«
»Damit haben Sie schon sehr viel mehr getan als der andere Kerl, der hier war«, antwortete Emmanuel.
Joe grinste.
Dann trat Emmanuel ein paar Schritte zurück und legte den Kopf auf die Seite.
»Sagen Sie, sind Sie der Polizist, der im Fernsehen war? Wegen des Mordes im Gericht?«
»Ja, das war ich.«
»Sie haben auch mal hier in der Gegend gewohnt, stimmt’s?«
»Ich bin hier aufgewachsen, ja.«
»In Pork’n’Beans?«
»Sehe ich so jung aus?«
Emmanuel lachte. Joe steckte sich das Foto in sein Notizbuch.
»Neptune hat irgendwas mit der Sache im Gericht zu tun, stimmt’s?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Joe. »Das ist ein völlig anderer Fall.«
»Ach ja?« Emmanuel zog die Stirn in Falten, seine Stimme triefte vor Skepsis. »Wie kommt es, dass Sie den Mörder noch nicht identifiziert haben?«
»Ich kann nicht über …«
»Über laufende Ermittlungen sprechen. Ersparen Sie mir den Vers, Bruder. Ich habe den Mörder gekannt …«
»Wie bitte?«
»Okay, ich habe ihn vielleicht nicht richtig gekannt, aber er war zwei- oder dreimal hier, kurz nachdem Neptune hier angefangen hat.«
»Waren die beiden befreundet?«
»Das sind Cousins. Der Mörder ist Madeleines älterer Bruder Jean. Jean Assad. Die beiden hatten unterschiedliche Väter. Seiner war irgendein Araber.«
»Wie haben Sie ihn erkannt?«
»Der war doch im Fernsehen zu sehen, klar und deutlich. Ich kann mir gut Gesichter merken. Gehört zum Geschäft, wissen Sie. Gesichter, Vornamen, Namen der Kinder. Die Leute brauchen doch alle mal einen Haarschnitt.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
»Natürlich habe ich. Hab die sofort angerufen.«
»Und?«
»Vielen Dank für
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