Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Flughafen deponiert. Den Schlüssel hatte er zu Hause versteckt, ganz tief unten in der Kaffeedose. Am Abreisetag würde er ganz normal aus dem Haus gehen, als wollte er zur Arbeit, aber stattdessen würde er zum Miami International fahren und in ein Flugzeug steigen. Er würde keiner Menschenseele davon erzählen. Nicht einmal Sam. Und schon gar nicht seiner Mutter.
Aber wohin sollte er gehen?
Als Erstes war ihm Phoenix eingefallen, wegen dieses Songs von Isaac Hayes – schon lange ein Lieblingslied von ihm -, in dem ein Mann seine Frau, die ihn betrügt, zum letzten Mal verlässt. Aber dann hatte er das wieder verworfen, weil der Typ in dem Song nie dort ankommt und weil Sam oder irgendwer sonst wahrscheinlich draufkommen würde. Also war er alle amerikanischen Städte durchgegangen, die in seinem Hirn abgespeichert waren, Namen, die er einmal gehört und nicht vergessen hatte. Die ganz bekannten hatte er ausgeschlossen, die berühmten, und war schließlich bei Buffalo gelandet. Perfekt. Wer um alles in der Welt würde auf die Idee kommen, ihn in Buffalo zu suchen?
Was er dort machen würde, wusste er nicht, aber es würde auf jeden Fall besser sein als das hier.
Am frühen Nachmittag ließ der Regen nach, und es donnerte nicht mehr. Carmine ließ den Laden in Lulus Obhut und fuhr zur 63rd Street. Immer noch in dem Pickup.
Alle Piks standen auf dem Gehweg aufgereiht, ein paar unter einem Regenschirm, andere in kurzen, glänzenden Regenmänteln aus Plastik, unter denen sie nur Unterwäsche trugen. Zu zweit, zu dritt oder zu viert standen sie am Bordstein und nahmen jedes Auto in Augenschein, das vorüberfuhr, winkten den Fahrern zu, mit denen sie Blickkontakt hatten, und riefen ihnen nach.
Endlich sah er Julita, die fast am Ende der Straße allein dastand. Sie trug ein rotes Kleid, das ihr kaum bis über den Hintern reichte, schwarze Schuhe mit Pfennigabsätzen und eine durchsichtige Windjacke. Sie sah verängstigt, traurig und müde aus. Als sie sah, dass der Pickup langsamer wurde, senkte sie den Blick zu Boden. Sie hatte ihn nicht gesehen. Er spielte mit dem Gedanken, anzuhalten und sie mitzunehmen, aber er hätte nicht gewusst wohin, und so fuhr er weiter.
Kurz nach vier Uhr war er wieder im Haiti Mystique und schickte Lulu nach Hause. Es hatte ja keinen Sinn, sie noch länger dazubehalten. Außerdem wollte er allein sein, er brauchte Ruhe zum Nachdenken.
Er sah sich nach etwas um, womit er sich die letzte halbe Stunde seines Arbeitstages beschäftigen konnte, und sah, dass die Trommeln dringend geputzt werden mussten.
Im Radio lief »Rapture« von Blondie. Er drehte es ein wenig lauter. Der Song brachte ihn zum Lachen: die weiße Schnitte, die so tat, als wäre sie die Sugar Hill Gang. Dabei hatte sie nicht den leisesten Schimmer vom Rappen, sie schien zu glauben, dass man nur reden musste, als würde man über Kopfsteinpflaster fahren – und dann dieser Unsinn, den sie von sich gab, von wegen Autos essen und Bars und Männer vom Mars. Herr im Himmel! Trotzdem, sie sah echt gut aus, ein waschechtes Herz.
Er korrigierte sich. Er musste aufhören, so zu denken, Frauen irgendwelchen Spielkarten zuzuordnen und zu überlegen, wie viel er für sie nehmen konnte. Die Zeiten waren vorbei. Tatsache war – wenn er denn ehrlich war zu sich selbst: Er war nie ein richtiger Lude gewesen. Nicht so richtig. Das Einzige, was er gemacht hatte, war verführen, rekrutieren und das Geld eintreiben. Der kreative Teil. Aufgebaut hatte er das Business nicht. Das hatte alles seine Mutter gemacht. Schön und gut, er hatte seine geheimen Karten gehabt. Aber auch dafür konnte er im Grunde nichts. Wie sonst hätte er an Geld kommen sollen? Was anderes konnte er doch nicht. Er war ein – wie nannten die Anwälte das gleich noch? – ja, genau, er war ein »Produkt seiner Umwelt«. Richtig! Genau das war er. Seine Mutter war an allem schuld. Sie hatte damit angefangen, praktisch direkt nachdem sie nach Pork’n’Beans gezogen waren. Sie hatte ihre Nachbarin an Männer verkauft, eine Dominikanerin namens Fabiana. Fabiana hatte sich Geld von ihr geliehen und konnte es nicht zurückzahlen. Sie hatte sie gezwungen, in ihrer Wohnung Freier zu bedienen. Carmine hatte durch die Wände gehört, wie sie gefickt wurde. Und nachdem die Freier gegangen waren, hatte er sie weinen gehört. Eines Nachts hatte sich Fabiana vor ein fahrendes Auto geworfen. Seiner Mutter war das scheißegal gewesen, sie hatte nicht das kleinste
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