Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
austricksen wollte, schaute er in die Vitrine. Risquée starrte mit pechschwarzen Augen und weit offenem Mund zu ihm hoch. In der Vitrine lagen geschrumpfte, graue, mumifizierte Hände aller Größen und beider Geschlechter, die Finger krumm wie knorrige Wurzeln, die Haut schrumpelig wie Dörrpflaumen. Es hieß, diese Hände hätten die Macht, jedes Schloss zu öffnen.
»Ich sagte: Das war’s! Raus hier!«, schrie Carmine sie an.
Dann sah er noch etwas anderes in der Vitrine. Sein Mund wurde trocken, und ganz tief unten in seiner Magengrube schlug etwas Kaltes, Schweres auf.
Da war eine schnell größer werdende Aureole aus Blut unter Risquées Kopf.
»Nein!«, flüsterte er.
Sie war tot.
Er ließ das Messer fallen, hob ihren Kopf an und sah, dass aus ihrem Nacken, direkt unterhalb der Schädelrundung, eine fast zehn Zentimeter lange Glasscherbe ragte. Ihr warmes Blut pulsierte über seine Hände und tropfte auf die Bodendielen.
Er schaute aus dem Fenster auf die Straße. Kein Mensch zu sehen. Sanft legte er sie auf den Fußboden, wischte sich die Hände an der Hose sauber, schloss die Tür ab und löschte das Licht.
Er musste sie hier wegbringen. Schnell. Aber er konnte nur dastehen und sie anstarren, wie sie vor ihm lag und das Blut aus ihr herauslief und eine große Lache bildete, und sich fragen, was um alles in der Welt er jetzt tun sollte.
Er könnte sie in die Glades bringen und den Alligatoren vorwerfen. Vermissen würde sie keiner. Aber mit dem Pickup konnte er sie unmöglich so weit fahren. Außerdem konnte er gar nicht weg, weil er bald zu Hause sein musste, für sein Bad.
Er betrachtete ihr Gesicht. Er hatte kein schlechtes Gewissen, weil sie jetzt tot war, schließlich war sie gekommen, um ihn umzubringen. Es war Notwehr gewesen, er hatte sie nicht töten wollen. Genau wie er auch den Bullen in dem Friseurladen nicht hatte töten wollen.
Er spielte mit dem Gedanken, seine Mutter anzurufen und ihr zu erzählen, was passiert war. Sie konnte jemanden schicken, der sich um die Angelegenheit kümmern würde. Sie brauchte den Laden.
Aber nein, das würde seine Fluchtpläne zunichte machen. Er musste klug vorgehen.
Wieder betrachtete er Risquée, als könnte sie ihm sagen, was zu tun sei. Mit ihren schwarzen Augen, die noch immer irgendwie wütend aussahen, und dem weit offenen Mund, und obwohl ihr die Schneidezähne fehlten, erinnerte sie ihn unweigerlich an die präparierten Alligatorköpfe, die in den Glades an Touristen verkauft wurden. Die Ähnlichkeit war fast unheimlich.
Er musste klug vorgehen. Sehr klug.
52
Das Erste, was Max und Joe auffiel, als sie im Haiti Mystique einbrachen, war der intensive Geruch nach Reinigungsmitteln. Die Dämpfe hingen schwer in der Luft und tränten ihnen in den Augen.
Sie schalteten die Taschenlampen ein und sahen, fast sofort, die zerstörte Vitrine und die getrockneten Hände, die auf der Vitrine nebenan gestapelt lagen. Max ließ den Lichtkegel nach unten wandern und bemerkte mehrere Blutstropfen auf dem Holzpodest der Vitrine, dann einen großen sandfarbenen Kreis auf den Bodendielen, der sehr viel heller war als das Graubraun des restlichen Fußbodens. Der Geruch war an dieser Stelle am stärksten.
Max berührte einen der Blutstropfen an dem Podest mit dem Zeigefinger, der in einem Handschuh steckte. Das Blut war dunkel und klebrig und schmierte. Es war erst vier bis fünf Stunden alt.
Er schaute sich das Innere der Vitrine genauer an und sah die roten Spritzer überall, vor allem an der Rückwand und auf den verbliebenen Glasscherben.
Joe nahm die Hände in Augenschein und sah, dass auch sie Blutspritzer abbekommen hatten.
»Hier ist wohl jemand übel gestürzt«, flüsterte Max. »Und das erst kürzlich.«
Sie schauten sich im Rest des Ladens um. Hinter dem Tresen fand Joe ein Kassenbuch und eine Geldkassette aus Metall. Lediglich fünf Seiten des Kassenbuches, das bis Februar 1977 zurückreichte, waren beschrieben. Er zählte die Verkäufe pro Jahr zusammen und lachte.
»Mit dem Laden hier ist Ismael jedenfalls nicht reich geworden«, sagte er. »Im letzten Jahr hat er stolze 2900 Dollar eingenommen. Davor 2455 Dollar. Sein erfolgreichstes Jahr war 1979, da hat er sage und schreibe 3233 Dollar umgesetzt.«
Max betrachtete ein Regal mit Einmachgläsern: in Formaldehyd eingelegte Hände, Finger, Zungen, Hoden, Augäpfel unterschiedlicher Farbe, Füße, Herzen, Lebern, ein Gehirn. Die Preise waren mit einem Filzschreiber auf die Gläser
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