Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
arbeitete, in der die reichen alten Männer aus dem Country Club nebenan verkehrten. Die alten Kerle gingen dahin, nachdem sie ein paar Golfbälle geschlagen hatten. Carmine hatte keine Ahnung von Golf. Für ihn war das kein Sport, sondern ein Statusding für Weiße, die ein gewisses Alter oder ein gewisses Einkommen oder beides erreicht hatten. Einen Ball durch die Gegend schlagen und dann locker zu der Stelle schlendern, an der er gelandet war, um noch einmal dagegenzuschlagen: Wozu um alles in der Welt sollte das gut sein?
Er fuhr durch eine stockdunkle Straße, sämtliche Straßenlaternen waren kaputt, die Häuser verfallen und vernagelt. Einige waren abgerissen worden: Schuttberge mit einem Drahtzaun drum herum. Einsame Palmen lehnten sich schief über die Straße wie Betrunkene, ihre Stämme waren eingekerbt, angebohrt und mit Graffiti besprüht, die Blätter schlaff und staubig. Er bog ab in eine Straße, in der alle Häuser dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Der Asphalt war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Er musste an ein Foto von Hiroschima denken, nachdem die Bombe gefallen war und kein Stein mehr auf dem anderen stand. In ganz Miami wurden derzeit alte Gebäude von Bauunternehmern in die Luft gejagt oder abgerissen, und dann ließen sie den Schutt einfach liegen, statt ihn wegzuräumen und etwas Neues zu bauen.
Plötzlich fuhr vor ihm ein Wagen auf die Straße, und er musste auf die Bremse steigen. Er war nicht angeschnallt, sodass er gegen das Lenkrad geschleudert wurde und mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe prallte.
»Arschloch!«, brüllte er und drückte auf die Hupe. Der Wagen fuhr ungerührt weiter.
»Du fährst immer noch wie ein Idiot«, sagte hinter ihm eine vertraute Stimme. Er drehte sich um und sah die undeutlichen Umrisse eines Mannes, der auf seiner Rückbank saß.
»Solomon!« Carmine hatte ihn nicht bemerkt, als er nach der Zeremonie in den Wagen gestiegen war, und auch nicht auf dem ganzen Weg bisher. »Wie bist du … Wie lange bist du schon hier?«
»Nicht so lang«, sagte er. »Fahr weiter.«
Carmine gab Gas.
»Schnall dich an«, sagte Solomon mit seiner immer gleichen Stimme, jenem klaren, forcierten Flüstern, das wie ausgehöhlt klang und voller Stille.
Carmine legte den Gurt an. Er spürte, wie der Blick seines Bosses ihn aus dem Rückspiegel ansprang, auch wenn er seine Augen nicht sehen konnte, geschweige denn das Gesicht.
»Guck auf die Straße. Konzentrier dich«, sagte Solomon.
»Wohin fahren wir?«
»Wo du hinfährst.«
»Ich bin bei der Arbeit. Ich habe da ein potenzielles Herz im Visier.«
»Ein Herz? Sehr gut. Wir brauchen mehr von den Hochklassigen, weniger Minderwertige«, antwortete Solomon.
»Ist mir schon klar«, antwortete Carmine. »Ich gebe mein Bestes, das weißt du doch.«
»Dein Bestes wofür?«, fragte Solomon.
»Für meine Arbeit, Solomon«, sagte Carmine, und der Mund wurde ihm trocken, seine Stimme zitterte ein klein wenig. Er hoffte, Solomon möge nicht von seinem und Sams kleinem Nebenerwerb erfahren haben. Sie waren so verdammt vorsichtig gewesen.
»Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut.« Carmine warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, aber er sah nur die Silhouette. Seit mindestens fünf oder sechs Jahren hatte er Solomon nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Ihre Begegnungen waren selten, und sie verliefen immer genau wie diese: Sie fanden immer an dunklen Orten statt und immer, wenn Carmine am wenigsten damit rechnete. Carmine hatte gehört, Solomon habe sich umfassenden Gesichtsoperationen unterzogen, habe seine Haut fast weiß bleichen lassen und trage das Haar jetzt lang und glatt; es hieß, er habe sich so verändert, dass man auf der Straße an ihm vorbeilaufen würde, ohne zu ahnen, wer er war, und dass er Doubles und Stimmimitatoren einsetzte, um seine Feinde zu täuschen. Carmine konnte nicht wissen, ob er nicht auch jetzt mit einem Double sprach.
»Grüß sie von mir.«
»Werde ich.«
»Bieg hier links ab.«
Er fuhr auf die North East 101st Street.
»Fahr hinter dem Cordoba da vorn rechts ran«, sagte Solomon nach einer Weile.
Carmine parkte vor dem schwarzen Chrysler. Die Straße war verlassen.
»Ich habe gehört, dass du von diesem Bullen geschlagen wurdest. Wir gehen dem nach.«
»Keine große Sache«, sagte Carmine in den Rückspiegel. Ein silberner Lichtstrahl von draußen fiel Solomon übers Gesicht. Blödsinn, was die Leute redeten, er habe seine Haut gebleicht.
Weitere Kostenlose Bücher