Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Wahrscheinlich hatte er das Gerücht selbst in die Welt gesetzt. Das war genau sein Ding – »Desinformation« nannte er es.
»O doch, es ist eine große Sache.« Solomon lächelte.
Und dann fuhr er sich mit der Zunge über die Unterlippe, und Carmine sah, was allen anderen immer einen Riesenschrecken einjagte. Solomon ließ das bei weitem nicht jeden sehen, dabei war es das Merkmal, das den tiefsten Eindruck hinterließ, meist auf Kosten aller anderen. Leute, die ihn gesehen hatten, konnten sich stundenlang über seine Augen auslassen, wie sie leuchteten, wie sie durch einen hindurchschauten, wie sie alle Geheimnisse sahen, die man hatte. Aber die hatten noch nie Solomon Boukmans Zunge gesehen. Sie war gespalten, von der Mitte an in zwei Teile geteilt, die Zungenspitzen leicht nach unten gebogen, wie zwei kleine rosafarbene Krallen. Carmine wusste noch genau, wie seine Mutter das gemacht hatte, wie sie die Zunge auf einem Schlachterbrett mit einem Messer in der Mitte durchgeteilt hatte. Solomon hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
»Pass auf dich auf, Carmine.«
»Du auch, Solomon.«
Solomon öffnete leise die Tür, glitt aus dem Wagen und ging auf den Cordoba zu. Je weiter er sich entfernte, umso mehr wurde er von der Dunkelheit verschluckt, bis er ganz darin aufgegangen war.
12
»Hey, in dem Wagen wird nicht geraucht. Neues Auto, neue Regeln«, sagte Joe, als sich Max die vierte Zigarette des Tages in den Mund steckte. Es war kurz nach acht Uhr morgens. Sie waren in Joes neuem Wagen auf dem Weg zur Arbeit, einem schokoladenbraunen 79er Lincoln Continental mit V8-Motor, Chromfelgen, eleganten beigefarbenen Ledersitzen, Holzintarsien an den Armaturen und zwei Lufterfrischern in Form eines Tannenbaums am Rückspiegel. Er hatte den Wagen vor einer Woche bei der SAW- oder Slain-and-Wounded -Auktion ergattert, bei der das beschlagnahmte und eingezogene Eigentum jener Kriminellen unter den Hammer kam, die für mehr als zwanzig Jahre hinter Gitter saßen. Mit dem gesammelten Geld wurden die Familien von im Dienst getöteten oder arbeitsunfähigen Polizisten unterstützt. Und genau wie bei der allerersten Auktion hatte es auch diesmal wieder eine symbolische Spende von 100 Dollar für die Familie des ersten Polizisten von Miami Beach gegeben, der im Dienst sein Leben gelassen hatte: David Cecil Bearden, am 20. März 1928 im Alter von vierundzwanzig Jahren von Autodieben erschossen. Der Continental hatte erst 160 Meilen auf dem Zähler. Er hatte sich für kurze Zeit im Besitz eines mittelgroßen Drogenkuriers befunden, der vor wenigen Wochen eine 78-jährige Haftstrafe im Union Correctional angetreten hatte.
»Der Gestank setzt sich in den Polstern fest und geht nie wieder raus. Das drückt nur den Preis, wenn ich die Kiste verkaufen will«, erklärte Joe. Sie standen auf der North East 2nd Avenue in einem Stau, der einer Kollision zwischen einem Zement-Lkw und einem Winnebago zu verdanken war. Der Lkw hatte deutlich mehr abbekommen.
»Ich dreh das Fenster runter«, sagte Max.
»Vergiss es, Mingus. Du sitzt in meinem Wagen, du akzeptierst meine Regeln. No fumar en auto .« Joe übte Spanisch, das er seit inzwischen fast sechs Monaten mit Hilfe von Kassetten lernte. Es hieß, bei der Polizei von Miami denke man darüber nach, ein schnelleres Beförderungssystem zu etablieren, bei dem Leute mit Spanischkenntnissen bevorzugt wurden, und so hatte Joe beschlossen, sich einen Vorsprung zu verschaffen. Außerdem hörte man auf den Straßen ohnehin fast nur noch Spanisch. Die Leute konnten einem vor der Nase alle möglichen Absprachen treffen, wenn man sie nicht verstand. Max war dem Beispiel seines Partners gefolgt und hatte sich Kassetten und Bücher von Berlitz gekauft, aber bis jetzt hatte er sie noch nicht aus der Verpackung geholt. Wieso um alles in der Welt sollte er eine Fremdsprache lernen, um sich in seinem eigenen Land verständigen zu können? Die wichtigsten Sachen würde er mit der Zeit schon von selbst aufschnappen, genau wie beim Straßenslang.
»Es gibt Schlimmeres, Joe. Luftverschmutzung, Abgase, Vogelscheiße. Die werden deinen Wagen schneller ruinieren als die Scheißkippen.« Mürrisch steckte er die Zigarette wieder in die Schachtel. Er hatte geduscht, sich rasiert und seine Kleider gebügelt, trotzdem sah er immer noch aus wie ein Wrack und fühlte sich auch so. Bevor er aus dem Haus gegangen war, hatte er gegen das Brennen im Magen eine Hand voll Pepto-Bismol geschluckt, aber der
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