Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Schock seines Lebens. Zwei von Moyez’ Leuten würden seine geliebte Mutter, seine Schwestern und seine kleine Tochter in den Saal führen und in die erste Reihe setzen, sodass er sie sehen konnte. Moyez hatte sie entführen und nach Miami bringen lassen. De Carvalho wusste, was es für sie bedeuten würde, wenn er sein mamaguebo -Maul aufmachte. Er würde seine Aussage widerrufen müssen, und der Prozess würde in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Mehr als ihn hatten sie nicht, die gringos estúpidos de mierda .
Wenigstens über die Geschehnisse in den ersten fünf Minuten der Verhandlung waren sich alle einig – und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre: Die beiden Kameras hatten alles klar und deutlich aufgezeichnet. Pedro de Carvalho wurde in den Zeugenstand gerufen, und aus einer Tür zur Linken von Richter Leo Davidtz trat ein kleiner, bleichgesichtiger Mann, der nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem rundgesichtigen, schnauzbärtigen Bandido auf dem weit verbreiteten Verbrecherfoto aufwies. De Carvalhos Mondgesicht mit dem Doppelkinn war nur noch Haut und Knochen, und er hatte sich den Bart abgenommen, sodass ein erstaunlicher Überbiss zutage trat, wodurch sein Kopf aussah wie der eines geschrumpften Inka. Auge in Auge mit seinem ehemaligen Boss, machte er kurz Halt, stand mehrere Sekunden stocksteif da, als wäre er festgewachsen, und starrte ihn an, während auf seinem Gesicht diverse Ticks und Zuckungen ihr Unwesen trieben. Hätte man ihn noch länger dort stehen lassen, hätte er wahrscheinlich angefangen zu schreien oder wäre heulend zusammengebrochen oder beides, aber die Gerichtsdiener zogen ihn weiter zum Zeugenstand.
Die Kameras schwenkten zu Moyez, der zurückgelehnt dasaß, die Hände über der Brust gefaltet, und seinen ehemaligen Befehlsempfänger so intensiv angrinste, dass sein Bart die Form eines Ruderbootes angenommen hatte.
De Carvalho legte den Eid ab, setzte sich, streckte die Hand nach dem Wasserglas auf dem Rand des Zeugenstands aus und warf es um. Moyez lachte laut auf. Der Richter warf ihm einen strengen Blick zu.
Der Gerichtsdiener, der de Carvalho am nächsten stand, hob das Glas auf und ging los, um es aufzufüllen. Der Staatsanwalt erhob sich und fing mit den Präliminarien an, er fragte den Zeugen nach seinem Namen, Alter, Geburtsdatum und -ort und nach seiner Beziehung zu Moyez.
De Carvalho war mitten in der Antwort, als die Haupttür zum Gerichtssaal aufging und er hinschaute, um zu sehen, wer hereinkam.
Niemand schenkte dem kahlköpfigen schwarzen Mann, der Gerichtssaal Nr. 15 betrat, große Beachtung. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarzweiß gestreifte Krawatte. Er fiel nicht sonderlich auf, solange man ihm nicht ins Gesicht sah und bemerkte, dass er weder Augenbrauen noch Wimpern hatte. Doch die Menschen in diesem Gerichtssaal schauten einander nicht allzu lange an, man konnte ja nie wissen, wen man da vor sich hatte und wie er reagieren würde. Somit war der Schwarze so gut wie unsichtbar, einer von vielen Anzugträgern an einem Ort, an dem praktisch alle Anzug trugen.
Der Mann schritt durch den Gang bis nach vorn.
Obwohl die ersten fünf Reihen direkt hinter dem Angeklagten voll besetzt waren, fand der Mann dennoch einen Sitzplatz in der Mitte der dritten Reihe, weil zwei Personen – ein Mann und eine Frau, beide blond – auseinanderrutschten, um ihm Platz zu machen. Der Mann setzte sich im gleichen Moment, als der Staatsanwalt de Carvalho nach seinem Verhältnis zu Victor Moyez fragte.
Als Moyez anstelle von de Carvalhos Familie den Schwarzen hereinkommen sah, warf er Coleman Crabbe einen verärgerten Blick zu. Crabbe machte eine winzige beschwichtigende Geste und schenkte seinem Mandanten sein aufmunterndstes Lächeln. Sie würden bald da sein. Alles lief nach Plan. Kein Grund zur Sorge.
Daraufhin richtete Moyez seinen wütenden Blick auf de Carvalho, der dem Staatsanwalt gerade schilderte, wie er Moyez in Cabimas kennen gelernt hatte, wo er auf der Suche nach Arbeit in den Ölraffinerien gewesen war. De Carvalho bemerkte den Blick seines Bosses, und die Worte, die bis dahin flüssig gekommen waren, blieben ihm auf einmal in der Kehle stecken und versiegten.
Dann sah Moyez, wie die Augen seines ehemaligen Stellvertreters von ihm weg nach links wanderten, zur Tür. Er wurde aschfahl.
Moyez lächelte, und die Spitzen seines Bartes streckten sich fröhlich in die Höhe.
Der Mann im grauen Anzug stand langsam
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