Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Genauigkeit herunter. Als sie zwölf war, redete sie mit den Toten. Mit fünfzehn ließ sie sich bereits von ihnen helfen, um in die Zukunft der Lebenden einzugreifen.
1963 wurde sie von Papa Doc, der ehemals ihr Freund und gelegentlich ein Kunde gewesen war, aus Haiti vertrieben, nachdem sie das Ende der Duvalier-Dynastie vorhergesehen hatte.
Zusammen mit ihrem neunjährigen Sohn Carmine und ihrem Gehilfen Solomon Boukman, damals elf, folgte sie dem ausgetretenen Pfad der Exilhaitianer nach Miami. Solomon hatte sie als Bezahlung von der Familie einer unfruchtbaren Frau angenommen, der sie geholfen hatte, schwanger zu werden, die jedoch bei der Niederkunft gestorben war.
Im ersten Jahr lebten sie im Sozialwohnungsprojekt Liberty Square, einer Ansammlung von Baracken, die wegen ihres rosa-orangefarbenen Anstrichs von den Einheimischen Pork’n’Beans genannt wurde. Außer ihr lebten dort noch eine Handvoll anderer haitianischer Familien, aber hauptsächlich arme Schwarzamerikaner. Sie kamen nicht sehr gut miteinander aus. Den Amerikanern passte es nicht, dass die Haitianer ihnen ihr kleines Revier streitig machten: Schließlich und endlich war Liberty Square allein für sie gebaut worden. Regelmäßig wurden Haitianer ausgeraubt und zusammengeschlagen und gelegentlich ermordet. Die Polizei unternahm nichts. Für die war es ein Kampf von Niggern gegen Nigger, und wen kümmerte das, solange die Rassengrenzen nicht überschritten wurden.
Einen Monat nach ihrer Ankunft wurde Carmine auf dem Heimweg von einem 7-Eleven von einer Horde Jugendlicher angegriffen. Sie nahmen ihm die zehn Dollar ab, die er noch vom Einkaufen übrig hatte, und traten ihn bewusstlos. Solomon zog los, machte die Bande ausfindig und ging mit einer rasiermesserscharfen Machete auf sie los. Jeder von ihnen büßte eine Hand, einen Finger, einen Arm, ein Auge oder – im Falle des Anführers – die Nase ein. Und er holte sich das Geld zurück, das sie gestohlen hatten.
Kurze Zeit später gründeten die haitianischen Jugendlichen in Liberty City ihre eigene Gang, und Solomon war ihr Anführer. Das waren die Anfänge des SNBC. Sie kämpften mit Fäusten, Füßen, Baseballschlägern, Springmessern, Macheten und selbst gebastelten Pistolen gegen sämtliche lokalen Banden. Solomon war stets mitten im Geschehen, seine Fähigkeiten als Kämpfer wurden zum Gegenstand von Straßenlegenden. Sie überfielen Menschen, Wohnungen und Geschäfte, verkauften die erbeutete Ware und klauten Autos auf Bestellung. Sie trieben Schutzgelder ein, zuerst von Haitianern, dann von allen, die zahlten. Und sie arbeiteten für Vernell Deacon – alias den Charmeur -, Liberty Citys erfolgreichsten Zuhälter. Er bezahlte sie dafür, dass sie ein Auge auf seine Nutten hatten und seine Bordelle bewachten. Aber er hatte nicht daran gedacht, sie auch dafür zu bezahlen, dass sie ihn beschützten, und so wurde er eines Tages auf der Toilette eines Nachtklubs erschossen. Solomon erweiterte das Portfolio seiner Bande um Zuhälterei und Prostitution. Je mehr Haitianer nach Miami kamen, umso größer wurde die Organisation. Irgendwann gliederte Solomon sie in Abteilungen und übertrug den Mitgliedern, denen er am meisten vertraute, die Kontrolle über Schlüsselbereiche, was ihm den Freiraum gab, ins Drogengeschäft einzusteigen.
Derweil sagte Eva Desamours den Touristen in South Beach die Zukunft voraus. Sie mietete sich einen Klapptisch, zwei Stühle und einen Sonnenschirm und reihte sich in das halbe Dutzend jüdischer und kubanischer Frauen ein, die für fünf Dollar Karten legten, aus Teeblättern und Handflächen lasen und in Kristallkugeln schauten. In der ersten Woche hatte sie zwölf Kunden, in der zweiten doppelt so viele, und in der vierten musste sie Leute wieder wegschicken. Carmine war die ganze Zeit bei ihr und verwahrte das Geld, weil er zu mehr nicht zu gebrauchen war – schon gar nicht für Solomons Gang. Am Anfang hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, ihn nach Haiti zurückzuschicken, weil er so offenkundig nutzlos war, doch dann fiel ihr auf, was für einen Erfolg er bei Frauen hatte, wie sie über seine karamellfarbene Haut und seine grünen Rehaugen in Verzückung gerieten – genau wie die Schlampen damals bei seinem nichtsnutzigen Vater. Und sie sah auch, wie sehr er sich in ihrer Aufmerksamkeit und ihren Schmeicheleien sonnte, wie süß er lächelte, wenn sie ihm sagten, was für ein hübscher Junge er doch sei, worauf sie nur umso mehr gurrten und
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