Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
treten konnte. Sie sahen nicht aus, wie sie im Tode ausgesehen hatten, sondern so, wie Evas Kunden sie am besten in Erinnerung hatten – und das galt sogar für die Kleider, die sie trugen, und die Dinge, die sie mitbrachten, um dem Gedächtnis ihrer Schützlinge auf die Sprünge zu helfen. Meistens kamen sie allein, oft auch zu zweit, und ganz selten, wenn eine Person besonders geliebt wurde, hatte sie es mit bis zu sieben Geistern zu tun. Alle Geister hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie sahen alle glücklich, fast euphorisch aus, und sie sagten Eva ihren Namen und mit wem sie sprechen wollten. Dann blieben sie vor ihr stehen, außerhalb des Kerzenkreises, und warteten, bis sie hineingebeten wurden.
Auch die bösen Geister kamen zu ihr. Jedes Mal, direkt hinter den guten, auf ihren Fersen, nur um die natürliche Ordnung der Dinge zu stören, ein unschuldiges Leben ins Verderben zu stürzen, es zu vernichten, wenn sie nur konnten. Jedes Mal versuchten sie, Eva hinters Licht zu führen, um sich Einlass zu verschaffen, aber Eva hatte schon vor langer Zeit gelernt, die Zeichen zu erkennen, die sie nicht überspielen konnten: das Glitzern in ihren Augen, das verschlagene Lächeln, manchmal auch die Gegenstände, die sie bei sich trugen oder eben nicht. Freundlich, aber bestimmt verweigerte sie ihnen den Zutritt und forderte sie auf, dahin zurückzukehren, wo sie hingehörten.
Nur gelegentlich trat doch ein böser Geist in den Kreis. Das war unvermeidlich. Sie hatten wichtige Anliegen mit ihren Kunden zu klären, Schulden, die eingetrieben werden mussten, irdische Übertretungen, die sich nun rächten. Diese Geister musste sie einlassen. So lautete die Vereinbarung. Manche Menschen mussten aufgehalten werden, bevor sie die natürliche Ordnung der Dinge zerstören konnten. Das Gleichgewicht musste wiederhergestellt, Falsches getan werden, um Gutes zu erreichen.
Und manchmal konnte ein böser Geist sie überlisten. Auch das war unvermeidlich. Solche waren schon im Leben große Lügner gewesen und nur noch besser geworden, seit Zeit kein Hindernis mehr und die Möglichkeiten grenzenlos geworden waren. Sie waren sehr geübt darin, den Guten zu mimen.
Der Schutzgeist von Solomon Boukman erschien immer, der, dessen Namen er angenommen hatte, der Große, der alles erst in Bewegung gesetzt hatte.
Boukman war jener Sklave, der zum Voodoo-Priester und zum Rebellenführer geworden war und der im Jahre 1791 den Sklavenaufstand angeführt hatte, der mit der Befreiung Haitis endete. Die französischen Kolonialdamen hatten um seine außergewöhnlichen hellseherischen Fähigkeiten gewusst und ihn gebeten, ihnen die Zukunft aus der Hand zu lesen. Er musste gar nicht erst hinsehen. Er wusste, dass sie eines grausamen und blutigen Todes sterben würden. Nachts in den Sklavenhütten sagte er den Sturz der französischen Kolonialherren voraus, und die Gefangennahme des »Zwerges, der sie anführt«. Die Leute sagten, er habe seinen eigenen Tod vorausgesehen, wie sein Kopf auf einem Pfahl durch die Gegend getragen wurde, damit alle ihn sehen konnten. Es hieß, das habe ihn veranlasst, den Aufstand anzustacheln, der zur Revolution werden sollte. Es hieß, das habe ihn zur Grausamkeit getrieben. Er verschonte keinen weißen Mann, keine Frau und kein Kind. Er tötete sie alle. Er vergewaltigte Frauen vor den Augen ihrer Ehemänner und tötete ihre Kinder, bevor er die Männer umbrachte. Er war ohne Gnade und ohne Mitgefühl.
Wenn er erschien, um mit Solomon zu sprechen, war er nackt bis auf eine Fessel am Fußknöchel, eine blutige Machete in der Hand und weiße Farbe in Form eines Totenkopfes im Gesicht. Und obwohl er Eva nichts tun konnte, hatte sie immer ein klein wenig Angst vor ihm.
Fast alle Wahrsager sind Scharlatane, und fast alle, die es nicht sind, lügen einen an. Wenn einem ein Unheil droht, sind sie die Ersten, die es wissen, und man selbst ist der Letzte. Sie überschwemmen einen mit Plattitüden und optimistischen Sprüchen und erzählen, dass alles gut wird – nur die Wahrheit sagen sie nicht.
Eva Desamours war die Ausnahme von der Regel. Sie war stolz darauf, dass sie immer die Wahrheit sagte, auch wenn die noch so schmerzhaft war.
Sie hatte zwei Kategorien von Kunden: Gewinner und Verlierer oder, wie sie es sah, Menschen mit Zukunft und Menschen ohne. Für Letztere konnte sie nichts tun, nur ihr Geld nehmen und sie mitleidig ansehen. Deren Leben war nicht nur im Eimer, es wirbelte bereits fröhlich den Abfluss
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