Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
hinweg die Hand.
Gott steh uns bei, dachte Max, denn wir wissen nicht, was wir uns hier einbrocken.
20
Eva Desamours verschränkte die langen, knochigen Finger und streckte sie durch, bis sie in allen drei Gelenken zweimal knackten. Sie lächelte, als sie den warmen, sprudelnden Strom freigesetzter Spannung spürte, der unter ihrer Haut kribbelte und perlte, ihre Nerven beruhigte und ihre Sinne schärfte.
Sie spürte, wie Solomon Boukman, der ihr in der Dunkelheit an dem runden Tisch gegenübersaß, zusammenzuckte. Sie wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn sie das tat, dabei hätte er sich schon vor langer Zeit damit abfinden sollen: Es war das letzte Ritual, das sie vollzog, bevor sie jemandem die Karten legte – und seine legte sie nun schon seit über zwanzig Jahren, seit er in Haiti bei ihr in die Lehre gegangen war.
Als Allererstes seifte sie sich unter der Dusche sauber, dann nahm sie ein Bad. Dazu verteilte sie eine Mischung aus Kräutern, Blumen und geschabten Wurzeln in der trockenen Wanne: Minze, die alle Wege frei machte, Blüten der Tollkirsche, die das Ich vom Körper befreiten, Alraunwurzel für den Mut, durch jede Tür zu treten, Eisenkraut zum Schutz vor Beeinflussung, Jalapenknolle für die Kraft von dreißig Mann, Goldsiegelwurzel, die die Augen öffnete, und eine Mischung aus Lavendelöl und Weihwasser, um all diese Kräfte zu vereinen. Dann ließ sie sehr heißes Wasser einlaufen, um die Essenzen der Mixtur freizusetzen. Schließlich stieg sie in die Wanne, lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die Kräfte in sich hineinsickern. Ab und an öffnete sie die Augen und bewunderte die wunderschönen Fische im Aquarium.
Nach einer Stunde trocknete sie sich ab und ging nackt nach oben in das Zimmer, in dem sie ihre Karten aufbewahrte.
Das Zimmer war klein und fast leer, die verputzten, ungestrichenen Wände waren von einem matten Braun, die geölten Bodendielen nackt und glatt. Die Einrichtung bestand aus einem großen Kreis aus gestohlenen Altarkerzen, die mit Knochensplittern von Aasgeiern gespickt waren und auf schwarz lackierten Eisentellern standen, und einem kleinen, grob gezimmerten Holzschrank, in dem sie ihre beiden Kartendecks in eigens dafür entworfenen schwarzen Samtetuis aufbewahrte. In dem Zimmer war es stockdunkel. Das Fenster hatte sie zumauern lassen, als sie das Haus gekauft hatte.
Sie wusste auch blind, dass der Schrank sechs Schritte links der Tür stand. Sie holte die Tarotkarten heraus, drehte sich um neunzig Grad und ging dreizehn Schritte bis an den Rand des aus Kerzen gebildeten Kreises. Sie trat in die Mitte und tastete den Fußboden ab, bis sie die Streichhölzer gefunden hatte. Dann entzündete sie die Kerzen gegen den Uhrzeigersinn, hockte sich hin und sah zu, wie das Zimmer nach und nach in den matten, violetten Ton eines heilenden Blutergusses getaucht wurde, wenn sich der ölige, orangefarbene Glanz des Fußbodens mit der unsichtbaren Pigmentierung der Wand mischte.
Dann nahm sie die Karten aus dem Etui, teilte den Packen, mischte sie sorgfältig, hob ein zweites Mal ab und teilte dann verdeckt und gegen den Uhrzeigersinn aus.
Sie hockte in der Mitte des Kreises, atmete tief durch und sagte in umgekehrter Reihenfolge die Namen der Kunden auf, denen sie am jeweiligen Tag die Karten legen wollte.
Manchmal dauerte es wenige Minuten, manchmal eine Stunde. Im Leben nach dem Tod gab es keine Uhren, nur Zeit, und die Toten hielten sich nicht an Termine.
Die Karten veränderten sich. Sie erwachten zum Leben.
Die einfachen Zeichnungen verwandelten sich in wunderschöne Bilder, die matten Farben wurden leuchtender und voller und sehr viel lebendiger, als sie im kalten Licht des Tages oder für das untrainierte Auge des Nichtinitiierten sein konnten. Der tiefrote Rand der De-Villeneuve-Karten wurde breiter und verflüssigte sich, die goldenen Sonnen in der Mitte glühten mit einem tiefen, satten Licht und wurden zu goldenen Totenschädeln an einer aus der Hölle geborenen Halskette.
Erst dann kamen sie, die über Evas Kunden wachten: die Berater, die helfenden Stimmen, die Quellen aller Instinkte und Gefühle, die die Menschen in Träumen und Ahnungen vorwarnten und ihnen unheimliche Parallelen aufzeigten, die gemeinhin Schicksal genannt und manchmal als Zufall abgetan werden.
Zu Eva – wie zu allen Hellsehern und Medien – kamen die Geister in menschlicher Erscheinung, nahmen eine Form an, die sie erkennen und mit der sie in Kontakt
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