Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
hinunter – sie waren chronisch krank, fanden keine Arbeit, litten an gebrochenem Herzen oder schierer, alles umfassender Verzweiflung. Was sie ihnen zu sagen hatte, war selten schön. Sie wusste, dass sie ihnen die Sache erleichtern, ihnen die bittere Pille versüßen könnte, aber wozu? Irgendwann kam doch das Gift zutage. Eva hielt die Menschen für von Haus aus optimistisch und daher für geborene Idioten: Sie glaubten nur das, was sie glauben wollten, auch wenn das Gegenteil ihnen ins Gesicht starrte und ihnen die Hand schüttelte.
Menschen mit Zukunft behandelte sie anders. Schließlich gab es da mehr, womit sie spielen und was sie nutzen konnte. Sie waren nicht weniger verletzlich als ihre glücklosen Kollegen, hatten im Wesentlichen die gleichen Bedürfnisse, Wünsche und Ziele, aber sie hatten einfach mehr Trümpfe im Ärmel. Sie hatten einen wichtigen Beruf, Geld, Einfluss und Kontakte. Bei ihnen lautete die Antwort nie: »Nein, das wird niemals passieren«, sondern: »Ja, alles ist möglich – es kommt nur darauf an, wie sehr Sie es wollen.«
Und ihre Antwort war unweigerlich immer die gleiche: »Mehr als alles andere.« Genau wie Evas Erwiderung: »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Eva Desamours war mehr als eine Wahrsagerin; sie konnte Einfluss nehmen. Wenn sie sah, dass das, was jemand erstrebte, nicht für ihn bestimmt war, konnte sie Maßnahmen ergreifen, dass es dennoch zu ihm kam. Sie konnte die Zukunft nicht verändern – das lag weit außerhalb ihrer Macht -, aber sie konnte sie für einen kurzen Moment aufhalten, sie verwirren, sodass sie ihre Abfahrt verpasste. Und während sie noch den Weg zurück suchte, rückte Eva die Dinge hin und her, sodass Schicksale vertauscht wurden: Die einsame Karrierefrau war plötzlich mit dem Arbeitskollegen zusammen, den sie schon seit einem Jahr heimlich liebte; der verheiratete Vater dreier Kinder landete mit der Kellnerin im Bett, auf die er schon lange scharf war; der Geschäftsmann brachte den für seine Karriere entscheidenden Deal unter Dach und Fach; der ehrgeizige Angestellte wurde überraschend befördert; über das Paar, das von Schulden erdrückt wurde, brach ein unerwarteter Geldsegen herein. Was sie ihren Kunden niemals sagte, war, dass sie, um ihnen Gutes tun zu können, mit mächtigen, bösen Geistern Geschäfte machte – mit Betrügern, Dieben, Lügnern und Mördern, mit den Schlauen und Talentierten, die sich im irdischen Leben nie hatten erwischen lassen – und dass an ihrem kurzen Glück ein großes Preisschild klebte. Der Arbeitskollege war ein Schläger, die Kellnerin hatte Genitalherpes, das großartige Geschäft führte zum Untergang dessen, der es eingefädelt hatte, der großartige Job war die reinste Hölle, und der unerwartete Geldsegen war eine Versicherungsleistung, weil die Frau bei einem schrecklichen Unfall ums Leben kam und der Mann bis ans Ende seiner Tage im Rollstuhl saß. Den Nichtinitiierten stand es nicht zu, die Zukunft beeinflussen zu wollen: Die Strafe für unverdientes Glück war ungefähr das dreifache Maß an Leid. Doch die Schuld wurde nicht sofort eingetrieben, und in der Phase des Glücks machte sich Eva das Wohlwollen ihrer Kunden zunutze, um für den SNBC ein paar Dinge zu regeln. Da sie für ihre Eingriffe in die Zukunft niemals Geld nahm, akzeptierte sie von ihren Geschäftskontakten Sachleistungen: Sie ließ sich Offshore-Konten einrichten, Briefkastenfirmen gründen und sich bei Immobilien- und Unternehmenskäufen helfen, um die gewaltigen Mengen an Drogengeldern, die die Organisation generierte, zu waschen.
Eva war mit der Gabe des Hellsehens auf die Welt gekommen. Sie hatte einen langen Stammbaum der Seher und Zauberer vorzuweisen, der bis in die Kolonialzeit Haitis zurückreichte. Ihre Urgroßmutter Charlotte war eine der berühmtesten Mambos des Landes gewesen. Sie war die engste Vertraute und, wie manche sagten, die einflussreichste Beraterin von Präsident Jean-Pierre Boyer gewesen und hatte ihn einundzwanzig Jahre lang mithilfe von Zaubersprüchen und Opferungen an der Macht gehalten.
Im Alter von drei Jahren konnte Eva Tarotkarten lesen, mit vier sah sie ihren ersten Geist. Noch bevor sie ihren zehnten Geburtstag feierte, sagte sie wohlhabenden haitianischen Damen die Zukunft voraus und ratterte Details von Ehebrüchen und Abtreibungen, Namen und Alter unehelicher Kinder, Einzelheiten komplexer finanzieller und eigentumsrechtlicher Betrügereien, Geburten und Todesfälle mit höchster
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