Der Totenschmuck
die Erde und wartete. Sie las den Globe, als Raj eine halbe Stunde später um die Ecke bog, eine zusammengerollte Zeitung unter dem Arm.
»Sweeney! Was machen Sie denn hier?« Sie versuchte, seine Miene zu deuten. War er nervös? Das konnte sie nicht sagen. Aber er war wieder zu seinem gepflegten Kleidungsstil zurückgekehrt und wirkte cool und elegant in Khakihosen und einem französischen blauen Hemd.
»Ich wollte Sie etwas fragen. Etwas über Brad.«
Nun wurde er nervös. »Äh, ja. Wollen Sie reinkommen? Ich habe um vier eine Veranstaltung, aber bis dahin sind es ja noch eineinhalb Stunden.«
Sie nickte, er schloss die Tür auf und ließ sie zuerst eintreten. Sie bekam eines der schönsten Wohnheimzimmer, das sie je gesehen hatte, zu Gesicht. Sie kam sich ein bisschen wie in einem englischen Landhaus vor, mit anständigen Möbeln und Büchern an den Wänden. Er hatte sogar eine kleine Zimmerbar auf Rädern, mit einer Flasche Sherry und ein paar Flaschen Scotch.
»Nettes Zimmer.«
»Danke. Ich finde es zwar höchst unangenehm, in einem Wohnheim zu wohnen, aber zumindest kann ich mir mein eigenes Reich nach meinen Vorstellungen einrichten.«
Sie nahm das Foto aus ihrer Tasche und reichte es ihm. Er besah sich schweigend die Aufnahme, dann gab er sie wieder zurück. »Das hat Brad gemacht.«
»Wo?«
»Concord.«
»Wann?«
»Vor einem Monat oder so.«
»Wollen Sie mir mehr davon erzählen?«
»Was gibt es da schon zu erzählen? Wir sind eines Nachts auf den Concord-Friedhof gegangen und haben uns etwas umgesehen. Da hat Brad dann wohl ein paar Fotos gemacht.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Sie wissen schon, das Seminar.«
»Das Seminar? Wieso das denn?«
Er räusperte sich. »Um die Steine genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie sollten auf Ihre didaktischen Fähigkeiten stolz sein. Wir haben uns so sehr dafür interessiert, dass wir ein paar außerplanmäßige Studien betrieben haben.« Er schickte ein entwaffnendes Lächeln in ihre Richtung.
»Raj, ich habe sehr viel Zeit auf Friedhöfen verbracht, aber mich nie nachts dort herumgetrieben. Das macht es irgendwie auch schwieriger, die Inschriften zu lesen.«
Er trat an einen kleinen Tisch neben der Bar und griff nach einer Kaffeedose. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er.
»Raj.«
»Ich werde Ihnen alles erzählen. Ich hätte nur gern erst einen Kaffee.«
»In Ordnung. Also gut.«
»Milch und Zucker?«
»Nur Milch, bitte.«
Während er sich mit dem Kaffee befasste, nahm Sweeney eine Ausgabe des Atlantic Monthly von seinem Couchtisch und blätterte sie durch. Raj machte sich an einer Espressokanne zu schaffen und goss anschließend das heiße Gebräu in zwei identische blaue Chinaporzellantassen.
»Okay«, nahm er den Faden wieder auf und reichte ihr eine der dampfenden Tassen. »Manchmal sind wir nachts auf Friedhöfe gegangen. Um, Sie wissen schon, zusammen mit
den Toten abzuhängen, oder so in der Art. Brad war ganz verrückt danach.«
»Was meinen Sie mit ›zusammen mit den Toten abzuhängen‹?«
»Ich meine, dass wir Séancen und so was gemacht haben. Ich habe nicht wirklich daran geglaubt. Ich denke, auch Becca, Jaybee und Jennifer haben nicht daran geglaubt, aber ich war neugierig, wieso Brad und Ashley sich so dafür begeistert haben.«
»Hat Ashley deswegen vor kurzem so ärgerlich auf mich reagiert?«
Raj nickte.
»Wie hat das angefangen?«
»Sie haben mit uns im letzten Semester dieses Projekt gemacht, wo wir Friedhöfe katalogisiert haben und wir haben beschlossen, das alle gemeinsam zu machen. Das war ziemlich spaßig, also haben wir das einfach noch mal gemacht und dann ist bei Ashley ein richtiger Spleen daraus geworden. Sie hat alles Mögliche über heidnische Feiertage gelesen. Letzten Herbst gab es einen, an dem alle Barrieren zwischen den Lebenden und den Toten verschwinden, und sie hat uns dazu gebracht, in ebendieser Nacht auf den Friedhof zu gehen.«
»Samhain, der keltische Feiertag«, warf Sweeney ein.
»Genau«, stimmte Raj ihr zu und sprach das Wort besonders vorsichtig aus. »Som-wen. Das war’s. Jedenfalls sind wir hingegangen und hatten dieses schräge Erlebnis. Ich kann das gar nicht beschreiben, aber es war, als wären noch andere Leute außer uns dort gewesen. Ashley hat behauptet, dass sie telepathische Fähigkeiten hatte und mit ihnen kommunizieren konnte.«
»Sie haben sich alle nur selbst Angst eingejagt«, erklärte Sweeney. »Die Vorstellungskraft ist schon eine erstaunliche Sache. Was war mit
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