Der Totenwächter - Roman (German Edition)
Irgendwann würde es diesen Herrschaften langweilig werden, zu ihr hinzustarren.
Die Neugier war größer. Erneut drehte Grace den Kopf - diesmal in die andere Richtung.
Und fuhr mit einem Kiekser hoch. Direkt vor ihr hockten zwei Personen. Eine ältere Frau und ein älterer Mann. Sie hatten sich lautlos angeschlichen und kauerte vor ihrem Liegestuhl. Mit offenen Mündern durchbohrten sie Grace mit ihren Blicken. Ihre Gesichter waren leer, hatten aber einen sonderbar glücklichen Ausdruck.
»Was, was wollen Sie von mir?«, stammelte Grace. Sie hatte das Badetuch bis zu ihrem Kinn hochgezogen.
Das Paar antwortete nicht. Stattdessen starrte es regungslos.
Grace warf das Handtuch von sich weg, schwang ihre Beine zur Seite und sprang aus dem Stuhl. Sie stieß sich den Hinterkopf am Sonnenschirm. Ein feiner Schmerz durchzuckte sie. Sie fluchte und trat vor die Badetasche. Das Paar blieb bewegungslos. Sie kauerten vor Graces Liegestuhl wie Kaninchen. Nun hoben sich die Köpfe. Wie Flammenwerfer sondierten ihre Blicke Grace. Quietschende und rutschende Geräusche ließen Grace herumfahren. Einige der anderen Reisenden erhoben sich langsam und wie in Trance aus ihren Liegestühlen und krochen unter den schützenden Schirmen hervor. Sie stellten sich aufrecht und blieben dort regungslos, wo sie waren.
Sie alle schienen nur ein Interesse zu haben.
Sie musterten Grace neugierig.
Alle zeigten denselben zufriedenen Gesichtsausdruck.
Den meisten lief Schweiß vom Körper. Einige, die den schützenden Schatten ignoriert hatten, zeigten erste Anzeichen eines Sonnenbrandes. Es waren durchweg Männer und Frauen zwischen dreißig und sechzig Jahren.
Ich bin die einzige Jugendliche auf diesem Schiff!
Grace zog ihre Schultern hoch und richtete sich kerzengerade auf. Mom hatte ihr einmal erklärt, eine aufrechte Körperhaltung würde das Selbstbewusstsein stärken. Ebenso hob sie ihren Kopf. Sie griff die Badetasche, die nach dem Tritt ein wenig zur Seite gekullert war, nahm das Badehandtuch und warf es sich über die Schulter. Es war an der Zeit, einmal so richtig cool! zu sein.
Sie setzte Schritt vor Schritt. Ein dicklicher Mann vertrat ihr den Weg. Unbeirrt ging Grace weiter. Sie ließ den Pool zu ihrer Rechten liegen und schritt dem schwitzenden Mann entgegen.
Soeben wollte Grace ihn bitten, den Weg freizugeben, als er in letzter Sekunde zur Seite trat. Während Grace an ihm vorbei schritt, hätte sie um Haaresbreite die Badetasche aus den rutschigen Fingern gleiten lassen. Der Mann hatte - unzweifelhaft! - ein sanfte Verbeugung angedeutet. Ebenso nickten ihr die anderen Touristen zu.
Was ist geschehen? Bin ich - ohne es zu wissen - über Nacht berühmt geworden?
Sie spazierte über das Deck in Richtung Bar. In ihr rumorte eine seltsame Mischung aus Faszination und Grusel. Sie verharrte einen Moment und blickte zurück. Der dickliche Mann lächelte sie strahlend an. Seine Lippen formten ein Wort. Er wiederholte es. Grace spitzte ihre Ohren. Sie konnte nichts verstehen. Auch die anderen starrenden Mitreisenden bewegten nun ihre Münder. Sie alle bewegten ihre Lippen wie im Gleichtakt. Sehr leise und wispernd formulierten sie immer wieder dieselben Buchstaben.
War es der Wind, der das Flügelschlagen eines Reihers herübertrug? War es das zuschende Geräusch eines Seils, welches die Segel der Feluke reffte? Waren es die Wellen, die sich am Rumpf des Nilschiffes brachen? Waren es die raschelnden Gräser, die sich in der milden Brise bogen? Oder waren es Stimmen, die immer wieder dasselbe Worte flüsterten, unhörbar eigentlich und doch schwingend wie ein geheimnisvoller Harfenton, der die Nacht zum weinen bringt?
Grace war sich nicht sicher.
Aber sie verstand.
»Sephrete - Sephrete – Sephrete ...«
9
Zuerst traute Linda ihren Augen nicht.
Wenn ich jetzt schreie, wird Brad mich vollends für verrückt erklären!
Also schwieg sie und sah hilflos zu, wie sich an jeder Schulterseite erst drei, dann vier, dann fünf Finger bereit machten, Brad zu greifen. Sie krümmten sich, um den Mann nach hinten aus dem Fenster zu ziehen. Und Brad stand dort, ahnte nichts und sah sie traurig und nachdenklich an. Greif ihn dir, Maskenwesen! Dann wird er mir glauben! , fuhr es trotzig durch Linda. Im selben Moment erkannte sie, wie blödsinnig dieser Gedanke war.
Brad war in großer Gefahr.
Sie öffnete ihren Mund, wollte etwas sagen, wollte ihm zu Hilfe eilen ...
(wollte – wollte ...!)
... und stand wie
Weitere Kostenlose Bücher