Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
als sie zum Museum ging. Sie war zu dreist geworden und hatte sich zu sicher in ihren Verkleidungen und mit ihren Fähigkeiten gefühlt.
Nun wusste sie es besser. Sie war nicht unfehlbar. Zum Teufel mit ihm!
Sie öffnete die Tasche und schüttelte das Kleid, die Schürze und die Unterröcke heraus, die sie einst sorgfältig zusammengefaltet hatte. Grob gekämmte Wolle, graubraun wie der Staub: Es wirkte wie das vielleicht zweitbeste Kleid eines Hausmädchens und war dazu gedacht, sie auf den Straßen Londons unsichtbar werden zu lassen. Es gab auch eine Flügelhaube für ihr Haar, Strümpfe, Schuhe, einen Zweitschlüssel für ihr Haus und Münzen für eine Kutsche. Taschen wie diese hatte sie überall in der Stadt verteilt, versteckt in den obersten Geschossen zerfallener Gebäude und Kirchtürme und auf leeren Dachböden: an allen Orten, die zu betreten sich gewöhnliche Leute scheuten. Bislang war noch nicht eine einzige Tasche entdeckt worden, höchstens gelegentlich von einer Mäusefamilie.
Sie kleidete sich an, als die Sonne in einem schmalen Strich hinter blutroten Häuserdächern verschwand. Das Kleid der Magd leuchtete in den letzten Lichtstrahlen rosa. Bald würde es dunkel sein.
Und im Dunkeln würden sie Jagd auf sie machen.
Nun wünschte sie, sie hätte daran gedacht, ein Fernglas einzupacken. Der Turm war völlig vernachlässigt und entsprechend schmutzig, sodass ihre Finger dreckverschmiert waren. Rue starrte hinaus in die hereinbrechende Nacht und versuchte sich zu entsinnen, ob sie seit ihrer Ankunft ihr Gesicht berührt hatte, doch es gelang ihr nicht.
Sie sollte sich eigentlich daran erinnern. Sie sollte vorsichtiger sein.
An ihrer Schürze wischte sie die Hände ab, dann presste sie die Tasche zurück in die Höhlung und fügte die Planke wieder ein. In all der Zeit, die sie diesen Ort nun schon kannte, hatte sich niemand die Mühe gemacht, die geborstene Kirchenglocke abzuholen, nicht einmal, um sie zu einem Schrotthändler zu bringen. Sie lauerte über ihr wie ein weit offen stehender Mund, der darauf wartete, sie zu verschlingen.
»Sei keine Närrin«, flüsterte sie sich selbst zu. Dann scharrte sie mit den Füßen über den Boden, um die Federn wieder zu verteilen, zog am Riemen zur Falltür und kroch die Stufen hinab. Es würden noch Stunden vergehen, ehe sie nach Hause gehen konnte. Sie würde in der Sakristei warten, wo die Luft wenigstens nicht vom metallischen Geruch nach Bronze und Verderben geschwängert war.
»Sie muss in Gewahrsam genommen werden.«
In grimmiger Runde saßen sie um den Tisch seines Vaters herum, die zwölf Mitglieder des Rates. Die anderen Männer, die Christoff ebenfalls mit nach London genommen hatte,
standen mit reglosem Gesichtsausdruck und mit verschränkten Armen hinter den leeren Stühlen mit ihren hohen Lehnen und bewegten sich nicht in dem Dämmerlicht des Speisesaals.
Diese stehenden Männer waren seine Wache; sie würden nicht Platz nehmen. Nicht im Kreis des Rates und nicht ohne seine Aufforderung. Im Augenblick hatte Kit nicht vor, ihnen anzubieten, sich zu setzen.
Er hatte die Kerzen der Kronleuchter entzünden lassen, jedoch kein Feuer im Kamin. Ihre Flammen warfen einen rauchig goldenen Schein auf die mit jadefarbener Seide bespannten Wände und brachten ein Licht hervor, das mehr verbarg als enthüllte. Aber er wollte gar nicht zu viel Helligkeit. Er wollte nicht, dass sie sein Gesicht sahen. Er konnte nur ahnen, was sie dort entdecken würden.
Die Sonne war im Begriff unterzugehen: Er spürte es ebenso wie alle anderen. Ihre Zeit war beinahe gekommen, eine Vorfreude auf die Nacht, die wie lautloser Donner durch die Kammer zog. Die Luft fühlte sich warm und stickig an, als ob sich ein Sturm zusammenbraute - obwohl Christoff wusste, dass das nicht der Fall war.
Wenn sie ein Mann wäre, dann würden sie ihn in dieser Nacht töten. Aber eine Frau …
»In Gewahrsam nehmen«, murmelte Kit von seinem Stuhl am Kopf des Tisches aus. »Festnehmen, meinen Sie.«
»Natürlich ist es das, was ich meine«, zischte Parrish Grady, der nach all diesen Jahren noch immer unerträglich war. »Sie muss sofort gefunden werden. Man muss sie aufspüren!«
»Sie hat den Diamanten gestohlen«, sagte ein anderer Mann vorwurfsvoll, und ein Chor, der von grimmiger Ungläubigkeit zeugte, folgte seinen Worten.
Der Diamant. Niemand hatte bislang laut ausgesprochen,
was sie in Wahrheit dachten: dass Christoff, ihr ungestümer, unerzogener Marquis, den Stein
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