Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
selbst die hastigste Mahlzeit besser als gar keine gewesen wäre. Sie wusste nicht, wie weit sie noch von London entfernt waren. In der Leere weit unter ihnen war nichts zu erkennen. Wie seltsam es doch war, sich das Gesicht der Landschaft nur vorstellen zu können. Es schien erstaunlich, dass sie überhaupt einen solchen Versuch unternahm, hier oben, in der so weichen Stille …
Sie erwachte von einem harten Stoß gegen ihr Kinn, sodass ihre Zähne aufeinanderschlugen, und ihre Beine hatten kurz Kontakt mit etwas Warmem und Festem unter ihr. Kit -gerade war er noch da, dann wieder fort, während Rue haltlos herumwirbelte. Sie legte die Flügel an und spreizte sie dann, um die Kontrolle wiederzuerlangen, und sie schraubte sich empor, bis sie das Gleichgewicht zurückerlangt hatte. Ihr Herz raste.
Kit flog neben ihr und hielt sich eng an sie. Der Blick, den er ihr nun zuwarf, war vom aufgehenden Mond überschattet, doch die Warnung darin war unmissverständlich.
Sie musste eine Pause machen. Sie musste etwas essen und sich ausruhen. Es kümmerte sie nicht, ob sie auf einem Feld oder vor einer Höhle oder im verdammten Covent Garden landeten. Sie konnte einfach nicht mehr weiterfliegen. Rue ließ sich absinken und sah zu Kit hinüber, um sich zu vergewissern, dass er verstand. Er tauchte ihr hinterher, schoss schnell hinab und zwang sie, wieder an Höhe zuzulegen oder Gefahr zu laufen, noch einmal mit ihm zusammenzustoßen. Verärgert warf sie sich nach links, aber er ließ sich nicht abschütteln und schlug mit seinem Schwanz nach ihr, als sie noch einmal versuchte, zum Boden zu gelangen.
In ihrer Drachengestalt konnten sie nicht sprechen und sich nicht einmal mit dem Knurren der niederen Tiere verständigen. Stille war der Preis für ihre Pracht. Man sagte, dass selbst die uralten Gaben der Drákon ein Opfer erforderten. Zu oft hatte sie gehört, wie sich die Dorfältesten Entschuldigungen zurechtlegten und behaupteten, die Drákon bräuchten gar keine Worte, und in der Schönheit des Himmels würden Geist und Wille vereinigt. Es stimmte auf jeden Fall, dass sie wusste, was Christoff verlangte, als er sie anstieß, aber Rue hoffte, dass sie ihm ebenfalls unmissverständlich klarmachen konnte, was sie in diesem Augenblick von ihm hielt.
Sie fletschte die Zähne in seine Richtung. Mit aller Macht drängte er sie nach rechts und kam ihr zu nahe, bis sie sich bewegte, nur um ihm aus dem Weg zu gehen. Und dann sah sie, was er sah: Keine zehn Meilen vor ihr befand sich ein schimmernder Edelstein aus trübem, gelbem Licht, der breiter und breiter wurde und Hitze und menschliche Gerüche in dicken, wabernden Schwaden emporschickte.
Sie konnte Straßen und die zerklüftete Silhouette erkennen und das anschwellende Brüllen einer Stadt in Bewegung hören.
London.
Endlich zu Hause.
9
Es stellte sich heraus, dass der geheime Eingang nach Far Perch durch die hölzernen Jalousie-Lamellen einer ungewöhnlichen Bronzekuppel führte, in deren Innerem kaum genug Platz für sie beide war, um aufrecht zu stehen. Der einzige Grund, warum Rue dort wieder ihre menschliche Gestalt annahm, war, dass sie wusste, Christoff würde sie andernfalls so lange bedrängen, bis sie nachgeben würde.
»So ist es brav«, flüsterte Christoff, als sie nach vollzogener Wandlung mit dem Rücken gegen eine kratzende Mauern gedrückt dastand. Das Licht, das sich durch die Lamellen zwängte, überzog sie beide mit hellen Streifen und bemalte Rues bloße Haut. Christoff trat mit beiden Füßen zur Seite und bückte sich, um eine Falltür zu öffnen, die zur Treppe führte. Seine Ellbogen stießen dabei an ihren Oberschenkel. Die Tür öffnete sich knirschend; darunter wartete undurchdringliche Finsternis.
»Ist das dein Plan?«, zischte Rue und zog sich die Haare über die Schultern nach vorne. Doch er warf nicht einmal einen Blick auf ihren Körper.
»Nimm meine Hand«, sagte er. »Ich werde dich führen.«
»Ich finde den Weg selbst.«
»Wie du meinst.« Er machte sich an den Abstieg. Rue sah
ihm nach, als er verschwand: ein Tiger, der sich in den Schatten fallen ließ. Sie blickte zurück zu der Jalousie, die sich genau auf Augenhöhe befand. Ihr Körper schmerzte, und der fortwährende Ärger über den Marquis wurde durch die Tatsache nicht besser, dass sie hungrig und nackt in der feuchten, beengten Kuppel seines vergleichsweise modernen Herrenhauses festsaß. Sie war müde, aber nicht so müde, dass sie sich nicht vorstellen konnte, was
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