Der träumende Diamant 2 - Erdmagie
mir auch gelungen. Du hast einen tiefen Schlaf, musst du wissen. Viel tiefer als dieser Mann.«
»Tatsächlich?« Lia machte nun einen Schritt auf sie zu; sie war größer und kräftiger, und der Zorn erhitzte ihr Blut. Das Kind sah ihr argwöhnisch entgegen und wich zurück.
»Ich wollte dich nur auf die Probe stellen im Hotel. Ich wollte sehen, ob du wirklich eine von uns bist. Ich habe dich schon seit Wochen gespürt. Du bist neu hier. Du bist anders. Du siehst aus wie wir, auch riechst du wie wir. Aber du hast deine Gestalt nicht verändert, um dem Feuer zu entkommen, also glaubte ich, mich geirrt zu haben. Trotzdem bist du jetzt hier.« Sie spitzte den Mund. »Das ist sehr seltsam.«
Lia packte das Mädchen am Arm. »Du hast das Hotel niedergebrannt und Leben aufs Spiel gesetzt … um mich auf die Probe zu stellen?«
»Das waren doch nur Andere «, antwortete das Kind, ohne mit den aschfarbenen Augen zu blinzeln. »Was kümmern die dich?«
Der Wind toste zwischen ihnen und war kalt trotz des Sonnenscheins.
Langsam lockerte Lia ihren Griff. Sie ließ den Arm des Mädchens los; dann trat sie von einem Fuß auf den anderen und lockerte damit einen kleinen Schneeball vom Felsen. Er
rollte immer weiter den Berghang hinab und zog eine lange, schnurgerade Spur hinter sich her.
»Wie alt bist du?«, fragte Lia.
»Elf Jahre alt. Und wie alt bist du?«
»Wo sind die anderen deines Volks?«
Erneut hob das Mädchen die Hand - eine Geste, die den Schnee, den Himmel und den blanken Felsen, der sich als Abgrund vor ihnen auftat, einschloss. Ihr Gesichtsausdruck blieb reglos.
Lia stieß den Atem aus und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Obwohl es dem Kind augenscheinlich nichts auszumachen schien, war es doch eisig hier oben, und sie würde rasch etwas dagegen unternehmen müssen; ihr bloßer Rücken und ihre nackten Füße waren bereits taub.
»Ich bin auf der Suche nach einem Diamanten namens Draumr . Weißt du, wo er zu finden ist?«
Nun blinzelte das Mädchen offenkundig überrascht. »Draumr ?«
»Kennst du ihn?«
»Natürlich. Er befindet sich in den Minen.«
»Wie bitte?«
»Tief in den Kupferminen.«
Lia überdachte diese Neuigkeit einen Moment lang, versuchte, das Licht in den Augen des Mädchens zu deuten, abzuschätzen, wie wahrscheinlich das eine Lüge oder die Wahrheit war und was das Kind gewinnen würde, wenn es sie hinters Licht führte. Aber was es sagte, ergab Sinn. Es erklärte, warum sich das Lied verändert hatte, während Lias Reise sie näher geführt hatte, in die Erde hinabsinkend wie die Sonne, die vom Himmel schwindet.
»Kannst du mich dorthin bringen?«
»Nein«, sagte das Mädchen und grinste.
»Hör mal zu - wie heißt du?«
»Mari.«
»Hör mal zu, Mari. Es ist sehr wichtig, dass ich den Diamanten finde. Ich würde dich auch dafür bezahlen, wenn du darauf aus bist. Ich werde dir alles dafür geben, was du als Entlohnung verlangst.«
»Du kommst aus England«, sagte das Mädchen und legte den Kopf schief. »Stimmt’s?«
Lia nickte.
»Ich habe schon einmal gehört, wie du Englisch gesprochen hast. Ich verstehe einige Worte. Bist du eine Prinzessin? Gibt es viele wie dich?«
»Mari.« Lia musste die Zähne zusammenbeißen, um das Klappern unter Kontrolle zu bringen. »Wirst du mich zu den Minen bringen, in denen sich Draumr befindet?«
»Selbst wenn ich dich dorthin brächte, würdest du den Diamanten nicht finden.«
»Warum nicht?«
»Weil niemand ihn je findet«, antwortete das Mädchen freimütig. »Und wenn du zu angestrengt danach suchst, wirst du ertrinken.«
»Du kannst ihn auch hören?«
»Jeder hört ihn. Der Berg hört ihn. Der Mond und die Falken hören ihn. Selbst mein Ehemann hört ihn. Aber er liegt außer unser aller Reichweite.«
»Dein Ehemann ?«
»Wenn du nach ihm suchst, Engländerin, wirst du nicht mehr zurückkehren.«
»Mari - willst du mir erzählen, dass du bereits verheiratet bist?«
Das Mädchen warf ihr einen seltsamen, versteinerten Blick zu. »Ich muss aufbrechen.«
»Warte.« Lia packte sie am Arm, ehe sie die Wandlung vollziehen konnte. »Dieser Mann an meiner Seite, der, den du nicht zu töten versuchst; ich muss einen geschützten Ort für ihn finden. Kannst du mir den Weg ins nächste Dorf zeigen?«
Mari schüttelte den Kopf. Wieder wurde ihr Haar aufgeweht, dunkel vor dem tiefblauen Himmel. »Hier gibt es keine Dörfer, nicht so weit oben, inzwischen nicht mehr. Der einzige Schutz, den es gibt, befindet sich dort
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