Der träumende Kameltreiber (German Edition)
Mitternacht. Also ging ich weiter. Eine imposante, beleuchtete Kirche stand mitten auf einem großen belebten Platz. Einige Cafés und Restaurants hatten Vollbetrieb. Die Kirche, dachte ich, wäre die bessere Alternative zur Telefonkabine. Aber nein, unmöglich, ein Moslem, der bei den Christen Asyl sucht. Obwohl …, dachte ich, und erinnerte mich an die Geschichtsstunden, wo wir die Religionskonflikte Europas durchnahmen. Die Juden hatten schon bei uns Schutz gefunden vor den Christen und die Christen suchten schon Schutz bei den Moslems, als sie von den eigenen Glaubensgenossen gejagt wurden. Warum sollten sie mir also heute eine Gegenleistung verwehren?
Ich stand da, bewunderte diesen imposanten Bau und musste an meinen Freund und Weggefährten Lotfi denken.
Ging es ihm gut? Die Europäer sind pflichtbewusste, rechtschaffene Menschen, sie werden ihm nichts antun, sie werden ihn nach Menschenrechtskonvention und nach lokalem Gesetz behandeln. In Afrika würde man dich zuerst zusammenschlagen, dann fragen, woher du kommst, dann würden sie dich an der Grenze absetzen und dich deinem Schicksal überlassen. Nicht die Europäer. Sie pflegen dich sogar zuerst gesund, bevor sie dich in ein Flugzeug setzen und nach Hause schicken, das hatte ich von Leuten gehört, die versucht hatten, illegal nach Europa zu gehen.
Der Hunger nagte an mir, der Durst und diese unglaubliche Lust auf ein heißes Getränk, und wenn es warmes Wasser mit Zucker wäre, machten mich fast verrückt. Ich lehnte mich unbewusst an die warme Wand eines Restaurants und bewunderte immer noch diese Kirche. Mein Freund Lotfi hatte mir unterwegs erzählt, dass die Christen keine Ungläubigen seien. Einige von ihnen hätten einen Fehler gemacht und neben Gott eine zweite Gottheit gestellt, nämlich Jesus. Die anderen hätten einen Fehler gemacht, indem sie glaubten, Jesus sei Gottes Sohn. Aber die Christen seien mit den Juden zusammen unsere nächsten Glaubensfreunde, denn Gott erwartete von uns Moslems, so mein Freund Lotfi, dass wir an Jesus und sein Buch glaubten. Danke, Lotfi, du hast mich davon überzeugt, dass ich nicht unter Feinden bin …
Als ich mich umdrehte und ins Restaurant schaute, weil mich der Geruch von gegrilltem Fleisch dazu zwang, sah ich sie. Sie musste mich schon länger beobachtet haben, wie ich da stand, dachte, zitterte, die Hände und die Füße aneinanderschlug, denn als unsere Blicke sich trafen, machte sie mir sofort ein Zeichen, ich solle hereinkommen. Ich schaute mich ungläubig um, in der Annahme, sie meinte jemand anderen. Aber ich war alleine auf der Straße und so fragte ich zur Sicherheit mit einem Handzeichen: ‚Ich?’, und sie nickte lächelnd. Niemals, Freunde, bis zum letzten Tag meines Lebens, werde ich diesen Augenblick vergessen, dieses einladende, freundliche, herzliche, bezaubernde Lächeln, das mich in eine andere Welt katapultierte.
Sie saß alleine an einem kleinen Tisch und aß. Ich ging auf sie zu und rechnete jeden Moment damit, dass sie sich besinnen und erkennen würde, dass sie mich verwechselt hatte. Ich zögerte, aber sie winkte mich zu sich und machte mir Zeichen, ich solle mich setzen. Ich tat, wie mir geheißen. Sie fragte mich auf Italienisch, ob ich essen wollte, ich verstand natürlich kaum etwas, aber das verstand ich: Mangiare! Ich saß da und war wie belämmert, wusste nicht, wie mir geschah, bis plötzlich ein dampfender Teller Spaghetti vor mir stand; sie dufteten fast so gut wie die meiner Mutter. Ich verschlang den Teller unter den staunenden Augen dieser Frau. Ich wollte mich schon verabschieden und sagte: ‚Je vous remercie beaucoup, grazie.’ Zu meinem großen Erstaunen antwortete sie in einem Französisch, das wesentlich besser war als meins: ‚Mais pas de problème, c’est un plaisir.’ Dann kamen Lammkoteletts, ich dachte: Das war es, was mich vorhin an die Tür dieses Lokals lockte. Sie waren gut durchgegrillt, fein gewürzt, gut gepfeffert. Ich wollte mich mit Messer und Gabel daranmachen, aber der blonde Engel gegenüber erlaubte mir, die Sache mit den Händen anzugehen. Ich hinterließ nur sechs blitzblanke Knochen. Ob ich Käse wünschte, fragte sie mich, ich verneinte lachend. Dann machte sie dem Kellner ein Zeichen und er kam nach einer Weile mit einem enormen Stück Kuchen, den ich endlich genießen konnte, denn bis zu diesem Moment hatte ich nicht gegessen, sondern gierig geschlungen vor lauter Hunger. Und dann kam ein Espresso. Wo sie uns bestimmt auch
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