Der träumende Kameltreiber (German Edition)
Italien illegal. Und wenn schon illegal, dann sind meine Chancen in einem Land, das ähnlich chaotisch verwaltet wird wie meins, größer als in der durchorganisierten, perfekten Schweiz.’
,Wir packen. Unterwegs fällt uns etwas ein. Wir fahren vier Stunden bis zur Grenze und bis dahin muss uns etwas eingefallen sein. Giovanni hat immer für alles eine Lösung, ich werde ihn fragen.’
,Giovanni’, dachte ich,,muss ein Mafioso sein. Er wird mich ausliefern. Er wird ihr sagen, er rufe nur kurz mal einen Freund an, der mir helfen könnte, und fünf Minuten später würde ich verhaftet. Und er wird die Achseln zucken und sagen: ‚Es ist besser für dich, Kleine.’ Und sie wird ein paar Tränen vergießen und mich danach vergessen. Aber jetzt spielte nichts mehr eine Rolle. Meine Familie hatte das Geld, meine Schulden waren beglichen. Dieser Frau schuldete ich so viel, dass sie mich auch ans Messer liefern könnte, ohne dass ihre Schuld dadurch meine ausgleichen würde.
Wir packten. Zwei große Koffer und eine kleine Reisetasche. Dann gingen wir zu Giovanni. Zu meinem Erstaunen war er ein älterer, väterlicher Mann mit einem grauen Schnurrbart und einem dicken Bauch. Er umarmte Heidi wie seine eigene Tochter, mir gab er nicht einmal die Hand. Wir setzten uns. Heidi bestellte und sagte ihm gleich: ,Wir müssen reden. Ein Problem …’
Er forderte sie auf, mit ihm zu kommen, und mir machte er ein unmissverständliches Zeichen, ich solle bleiben, wo ich war. Ich harrte aus. Sie blieb eine Weile mit ihm in der Küche oder sonst wo. Wahrscheinlich versuchte er, ihr einzureden, mich und die ganze Belastung um mich herum einfach abzulegen. Vielleicht bot er ihr an, durch den hinteren Ausgang zu verschwinden, er würde es mir schon erklären. Nach einer Weile kam Heidi mit einem großen Lachen im Gesicht zurück, setzte sich und – als das Essen kam – genoss die Teigwaren und den Salat, wie ich selten einen Menschen sein Essen genießen sehen hatte.
Giovanni hatte ihr einen Tipp gegeben. Wir sollten miteinander bis Chiasso fahren. Kurz vor der Grenze sollte ich aussteigen, möglichst wenig Gepäck dabei haben, nur für den Notfall eine kleine Tasche. Dann sollte ich in den nächsten Zug einsteigen, möglichst spät, eine, höchstens zwei Minuten vor Abfahrt. Dann sei die Chance am größten, dass ich durch die Kontrolle käme. Sollte etwas schiefgehen, dann würden sie mich lediglich nach Italien zurückschicken und ich könnte es zehn Minuten später mit einem anderen Zug versuchen. Ich sollte es – so die Worte Giovannis – so oft versuchen, bis ich rüberkäme. Die besten Chancen gäbe es mit den späten Zügen.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Diese Frau war bereit, mit mir an den Rand der Kriminalität zu gehen. Warum denn? Das, Freunde, habe ich nie aufgehört zu fragen. Ich weiß es heute noch nicht. Es war vielleicht Gottes Wink, sein Wille und seine Entscheidung, mir einen Weg in die Schweiz zu bahnen, durch diese Frau, die sein Engel gewesen sein muss. Anders kann ich es nicht erklären!
Wir fuhren nach einem leichten Mittagessen los. Sie füllen ihre Bäuche vor einer Reise nicht, wie wir es tun. Der BMW ließ den Lärm der Welt draußen und wir hörten Musik, klassische Musik. Ihr habt ja keine Ahnung. Bei allem Respekt vor Om Kalthoum, die ich verehre, vor Farid El Atrache, den ich so gern höre, wenn ich traurig bin, vor Feirouz und ihrer himmlischen Stimme, diese klassische Musik in Europa lässt dich schweifen, weit weg von der Welt und ihren Sorgen. Wir fuhren über Landstraßen, Autobahnen, durch Tunnels. Wisst ihr überhaupt, was Tunnels sind? Da fahren Autos unter einem Berg durch. Unglaublich, was? Heidi beherrschte das Auto wie ein Spielzeug. Wir redeten und lachten. Die Landschaft war so einladend für einen Mann, der bei einer Autofahrt in der Heimat außer der Steppe und Olivenbäumen nichts sieht. Dörfer, Städte, Agglomerationen, Industriegebiete und riesige landwirtschaftliche Zonen sausten an uns vorbei. Wir hatten es wunderbar warm im Auto. Draußen war es weit unter Null.
Irgendwo zwischen Milano und Como hielten wir an, tranken einen Kaffee und besprachen alles noch einmal: Wenn ich über die Grenze käme, würde ich in Richtung Zürich fahren. Dort würde ich ein Taxi zur Bahnhofstraße 4 nehmen. Heidi wollte, dass ich ein Taxi nehme, sie gab mir auch das ganze Geld für diese unglaubliche Reise. Aber ich wollte es zuerst mit den billigen Verkehrsmitteln probieren. Ich
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