Der träumende Kameltreiber (German Edition)
nachts noch vertragen, und andere kleine Häppchen. Zu Ehren Heidis, Freunde!«
»Ich höre gerne Geschichten zu, die mit Süßigkeiten verbunden sind«, sagte einer.
»Wenn sie schon erfunden ist, dann sollen uns die Baqlawas darüber hinweghelfen, dass wir uns hier die halbe Nacht um die Ohren schlagen«, lachte ein anderer.
»Sag bloß, du glaubst ihm immer noch nicht!«
»Kein Wort. Das hat er alles bei Gesprächen mit den Touristen auf dem Rücken seiner Kamele mitbekommen. Der Typ sollte ein Buch schreiben. Er ist der geborene Geschichtenerfinder.«
»Dass eine Straße namens Bahnhofstraße nicht am Bahnhof, sondern am See anfängt und Richtung Bahnhof die Hausnummern steigen, das kann doch keiner erfinden oder auf dem Rücken eines Kamels aufschnappen. Seit der Geschichte mit der Bahnhofstraße glaube ich ihm jedes Wort. Er mag vielleicht das eine oder andere übertreiben, aber ich bin überzeugt, es gibt diese Heidi.«
»Natürlich gibt es sie. Es gibt ja auch Heidi Klum. Merkst du nicht, dass die Heidi unseres Freundes so schön und so blond wie ein Model ist? Ich sage dir, lass dich nicht erwischen, er ist ein ungemein aufmerksamer Zuhörer bei seinen langen Kamelritten, das ist alles.«
Während die Freunde sich bedankten und in die drei Kartonschachteln griffen, fuhr Ahmed fort.
»An jenem Montagabend sollte ich ihre Eltern kennen lernen. Ich wollte es ihr ausreden, sie sollte anrufen und sagen, ich hätte mich erkältet wegen des langen Marsches durch den italienischen Wald oder wegen eines Durchzugs oder was auch immer. Aber sie bestand darauf und sagte nur, dass sich ihre Eltern echt freuen würden, mich zu sehen. Ihre Eltern wohnten in Rüschlikon. Es heißt nicht Rischlikon und auch nicht Ruschlikon. ‚Ü’, Freunde, da muss man die Lippen etwas mehr spitzen als bei einem ‚U’. Schön, wie ihr es alle probiert, wie die kleinen Vögel beim Zwitschern. Wir fuhren im BMW – dieses Auto hatte es mir wirklich angetan – nach Rüschlikon. Die Villa ihrer Eltern kam mir vor wie der Palast unseres Präsidenten, beleuchtet, mit einem riesigen Umschwung, ähnlich einem kleinen Wald, mit einer Allee wie im Film. Dabei hatte der Mann doch nur eine Schokoladenfabrik. Die Aussicht auf den See war atemberaubend. Bedienstete empfingen uns. Einer fuhr den Wagen weg, eine nahm uns die Mäntel ab und begleitete uns ins Innere des Hauses. Wo bin ich bloß gelandet?, fragte ich mich. Und angenommen, Heidi wollte mehr von mir? Angenommen, sie würde mich eines Tages heiraten? Dann würde ein Teil dieses Reichtums mir gehören? Ihr entschuldigt, aber in einem solchen Moment denkt jeder arme Mensch an diese Aussichten.
Ein magerer Mann, um die siebzig, mit weißem, kurzem Haar, kam uns entgegen und umarmte seine Tochter, dann gab er mir die Hand und sagte: ,Willkommen!’ Heidis Mutter saß in einem Sessel. Heidi bückte sich und küsste sie auf die Wange. Ich gab der alten Dame mit den feuchten Augen die Hand und sagte: ,Guten Abend, Madame.’ Sie lächelte und sagte leise: ,Bonsoir, Monsieur.’
Wir verbrachten einen wunderschönen Abend. Es gab Dinge zu essen, die ich noch nie gesehen hatte. Eine dicke Köchin rannte hin und her und brachte ständig neue Sachen. Zum Schluss gab es natürlich ein Assortiment feinster Schokolade. Sie fragten mich, ob ich auch Wein trinken würde. Ich verneinte. Sie verstanden das. Einen Gang musste ich auslassen, den Käse. Mann, haben die einen stinkenden, vergammelten, verschimmelten Käse aufgetischt und ihn genossen, als wäre er eine reife Dattel. Er stank dermaßen, dass ich die Luft anhielt. Und zum Kaffee erzählte der alte Mann seine Geschichte. Wisst ihr, auch sie haben Geschichten und eine Vergangenheit, die sich hören lässt. Wir verleugnen unsere Vergangenheit, wenn sie schlechter ist als unsere Gegenwart. Sie nicht.
So erzählte der Alte, dass er als junger Mann sieben Geschwister hatte, ja, ja, das gab es bei ihnen auch. Seine Eltern waren Bauern. Sie konnten aber nicht alle Kinder ernähren, unglaublich, was? So schickten sie ihn und eine Schwester zu einem anderen Bauern, um zu helfen. Er schuftete und bekam wenig zu essen, kaum Lohn, und was er verdiente, musste er nach Hause mitnehmen und abgeben. Im Alter von achtzehn ging er für ein Jahr in den französischsprachigen Teil der Schweiz. Ihr wisst doch, die Schweiz besteht eigentlich aus drei Ländern, vielmehr sind es vier, aber das werdet ihr nicht verstehen. Jedenfalls wollte er ein Jahr
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