Der träumende Kameltreiber (German Edition)
werden immer mehr Feiertage zum Geschäft. Wir sind ja froh, dass die Leute viel Schokolade kaufen, aber es ist wie mit Weihnachten, es wurde einfach zum Geschäft.’ Sie sagte das mit einer gewissen unüberhörbaren Verbitterung, als wenn sie die Welt und die Zeit etwas zurückdrehen wollte. ‚Valentin war ein Bischof, wissen Sie. Er lebte im zweiten oder dritten Jahrhundert in Italien, glaube ich. Aber kein gewöhnlicher. Die meisten Priester weigerten sich damals, Bettler, Kriminelle und uneheliche Kinder zu taufen oder zur Hochzeit zu segnen. Valentin gab jedem Paar seinen Segen, wenn es sich nur liebte, und er soll den Paaren Blumen aus seinem Garten geschenkt haben. Und so wurde aus diesem Namen ein Fest, zu dem sich die Liebenden beschenken.’
Diese Frau erzählte genau so schön und spannend wie meine Mutter. Als wir noch Kinder waren, konnte sie uns die einfachsten Ereignisse, manchmal nur den Besuch einer Cousine, so spannend beschreiben, dass wir mit offenen Mündern dastanden und zuhörten.
Ich hatte den ganzen Nachmittag mit Heidis Mutter verbracht, einer ausgezeichneten Schach-Spielerin. Ich hatte ihr voller Stolz das Wort ‚Matt’ erklärt, als sie ein wunderschönes Brett aus einer Kommode zog. ‚Matt’ kommt vom arabischen ‚mät’ und heißt ‚es ist gestorben’. Wenn der König stirbt, ist man also matt. ‚Und was heißt denn patt’, fragte sie, als wir die Figuren aufstellten. ‚Das heißt, er hat übernachtet, bät. Also, wenn keiner gewinnt, dann schlafen beide noch mal …’
Natürlich schlug sie mich. Aber wir unterhielten uns ganz nett, unter anderem bat ich sie, mir mehr über Heidi zu erzählen, denn ich wusste quasi nichts von ihr.
‚Wissen Sie’, fing sie an, ‚sie war bis vor einem Jahr mit einem vielversprechenden jungen Mann zusammen. Das hat sie Ihnen wahrscheinlich noch nicht gesagt, Sie hatten ja auch wenig Gelegenheit, darüber zu reden. Aber ich bin sicher, ich darf es Ihnen erzählen. Wir hörten schon die Hochzeitsglocken läuten, ihr Vater und ich. Marco ist der Sohn eines befreundeten Arztes und arbeitete bei einer Großbank im Devisenhandel. Er ist sehr jung, wissen Sie, und das viele Geld, das diese jungen Menschen herumbewegen, das war vielleicht zu viel für ihn. Er bekam jahrelang jeden März einen so großen Bonus, dass er jedes Jahr ein neues, ein teureres Auto kaufen konnte. Dann lief es mal nicht so gut. Er verlor bei ein paar Geschäften, hat es aber irgendwie vertuscht. Er begann zu trinken und andere Sachen einzunehmen. Eines Tages holte ihn die Polizei am Arbeitsplatz ab. Seither ist er in Entzugstherapie. Er ist am Boden, der arme Junge.’
‚Wieso hat er denn dieses viele Geld nicht beiseitegelegt, das er jährlich verdiente, und ein Auto ein paar Jahre lang behalten?’
Sie sah mich an, als wenn sie mir sagen wollte: ‚Du armer Kameltreiber hast wohl keine Ahnung, was einem jungen Mann passieren kann, wenn er so viel Geld in die Hände bekommt.’ Aber stattdessen erklärte sie: ‚Ich glaube, es geht vielen jungen Menschen so. Sie können es nicht verkraften, weniger einzunehmen. Es muss immer mehr sein. Und sie glauben an keine Grenze, sie glauben an das unendliche Wachstum.’
‚Darf ich Ihnen eine Anekdote erzählen, die ich von meinem Vater gehört habe?’ Sie nickte und lächelte freundlich.
‚Zu den Zeiten Salomons – wir nennen ihn Suleiman – lebte ein sehr reicher Mann. Er war so reich, dass er nicht mehr wusste, was er besaß, so ungeheuerlich groß war sein Eigentum. Als er alt war, ließ er Experten aus dem ganzen Land kommen, die sein Vermögen bemessen sollten, damit er sein Erbe verteilen könnte. Die Männer zogen über Ländereien, schätzten Immobilien, zählten Olivenbäume und Dattelpalmen, Schafe und Ziegen, Kamele und Sklaven. Aber sie kamen zu keinem Ende und gaben auf. Ein einfacher, gläubiger Mann trat die Aufgabe an und sagte dem Reichen: ‚Ich will dir dein Vermögen nicht nur schätzen, sondern genau definieren. Gib mir zwanzig Dinare und ich werde dir noch heute Abend das Resultat bringen.’
Der Reiche fauchte ihn an: ‚Wer bist du denn, dass du dir anmaßt, das zu schaffen, was über fünfzig Fachmänner in wochenlanger Arbeit nicht erledigen konnten?’ Trotzdem gab er ihm die zwanzig Dinare und am selben Abend kam der Mann zurück, warf dem Reichen einige Gegenstände vor die Füße und sagte: ‚Das, mein Freund, ist dein ganzes Vermögen.’
Der Reiche lachte laut und betrachtete die
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