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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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gehöre ganz bestimmt nicht zu den Besten.«
    »Das wird sich erst herausstellen«, sagte der Professor und blickte zum Esszimmerfenster hinauf, wo Anna aufgetaucht war und ihm mit drohend erhobenem Zeigefinger unmissverständlich bedeutete, jetzt, gleich, sofort wieder ins Warme zu kommen.
    »Ist das Ihre Tochter?«
    Der Professor nickte. Mit dem breitesten Lächeln, zu dem Franz mit seinen eingefrorenen Wangen fähig war, grüßte er zu Anna hoch, die prompt ihre Hand zu einem kleinen Winken hob, gleich darauf mit wenigen schnellen Bewegungen die Vorhänge zurechtzupfte und dahinter verschwand.
    »Sie sieht ein bisschen aus wie meine Mutter. So von Weitem, meine ich.«
    »Musst du mir unbedingt mein alttestamentarisches Alter vor Augen halten?«, murrte Freud. Er schloss die Augen und tat einen letzten, konzentrierten Zug an seiner Hoyo. Doch es war vorbei. Der Geschmack der Zigarre konnte kaum noch über die Schmerzen im Mund hinwegtrösten. Vorsichtig legte er den Rest des Stumpens auf der Armlehne ab und sah zu, wie die Glut langsam verglomm.
    »So geht sie hin in Würde …«, murmelte er, als sie erlosch, und Franz nickte dazu. Sie sahen einander an.
    »Und jetzt?«, fragte Franz.
    »Jetzt verschreibe ich dir ein Rezept«, antwortete Freud, »respektive sogar drei Rezepte. Und auch wenn es vielleicht ein bisschen paradox klingt: Ich verschreibe dir diese Rezepte mündlich. Also pass auf, und merke sie dir gut! Erstes Rezept (gegen dein Kopfweh): Hör auf, über die Liebe nachzudenken. Zweites Rezept (gegen dein Bauchweh und die wirren Träume): Leg dir Papier und Feder neben das Bett und schreib sofort nach dem Aufwachen alle Träume auf. Drittes Rezept (gegen dein Herzweh): Hol dir das Mädchen wieder – oder vergiss sie!«
    Die Sonne war längst verschwunden. Der kalte Wind blies ein paar Zeitungsfetzen die Berggasse hinunter. Jemand öffnete sein Fenster, für einen Moment drang Musik ins Freie, irgendein blecherner Marsch, dann war es wieder ruhig. Der Professor gab sich einen mühevollen Ruck, und beide standen auf.
    »Ich wünsche dir viel Glück, Franz!«, sagte er und streckte ihm seine Hand entgegen. Franz spürte die Finger des alten Mannes in seiner Hand, dürr und leicht wie ein trockenes Bündel Reisig.
    »Das kann ich gebrauchen!«
    Freud hatte die Straße schon überquert und war dabei, den Hausschlüssel aus seiner Manteltasche zu ziehen, als ihn Franz’ von der Kälte schon zittrige Stimme noch einmal einholte: »Darf ich vielleicht auch einmal auf die Couch, Herr Professor?«
    Freud drehte sich um.
    »Was willst du denn auf der Couch?«
    »Weiß ich nicht. Aber wenn ich erst einmal draufliege, werde ich es schon herausfinden!«
    Freud starrte den Buben ungläubig an. Er schob sich den Hut aus der Stirn und zwirbelte mit zwei Fingern seinen Bart zurecht.
    »Zuerst die Rezepte – dann werden wir weitersehen, in Ordnung?«
    »In Ordnung.«
    Sie schwiegen für ein paar Sekunden. Schließlich verzog Freud seinen Mund zu einem krummen Lächeln und steckte den Schlüssel ins Schloss.
    »Frohe Weihnachten, Franz!«
    »Frohe Weihnachten, Herr Professor!«
    Über die Weihnachtsfeiertage hatte die Trafik geschlossen. Otto Trsnjek hatte Franz vertrauensvoll Schlüssel und Verantwortung für die stillen Räume hinterlassen und war zu einer Großcousine nach Potzneusiedl ins Burgenland gefahren, um »der Seele und dem Bein in der burgenländischen Fadesse ein bisserl Ruhe zu gönnen«. Franz verbrachte die meiste Zeit in seinem Kämmerchen, einerseits, um Kraft für die anstehende Rückeroberung zu sammeln, und andererseits, weil ihn seit dem Sonntagnachmittag auf der Holzbank eine bösartige Erkältung plagte. Draußen schneite es seit Tagen ununterbrochen. Mittlerweile hatten die städtischen Räumkommandos, bestehend aus ausgemergelten Arbeitslosen und Bundesheersoldaten mit kindlichen Bauernbubengesichtern, den Schnee bis zur halben Höhe der Auslagenscheiben aufgehäuft. In der Trafik war es schummrig und still und Franz hatte seine Ruhe. Meistens lag er im Bett und vertrieb sich die Zeit damit, dem leisen Bollern im Kohleofen zuzuhören und an die böhmische Zahnlücke zu denken. Am Heiligen Abend zündete er eine Kerze an und verdrückte den kompletten Inhalt des bis unter den Deckel mit Vanillekipferln, Schmalzkrapferln, Marmeladentascherln und anderen nach Heimat und Kindheit duftenden Mehlspeisen gefüllten Pakets, das ihm die Mutter geschickt hatte. Am Boden der Schachtel fand Franz eine

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