Der Trafikant / ebook (German Edition)
kleine Fotografie. Das Bild zeigte die Mutter auf der verschneiten Eisfläche des Attersees. Sie trug eine ihrer selbstgestrickten Pudelhauben, einen Wolljanker, einen Winterrock und ihre alten, dick mit Kaninchenfell gefütterten Haferlschuhe. Sie blickte direkt in die Kamera und lachte. Einen Arm hatte sie ausgestreckt und schien damit irgendwo hinzuzeigen, vielleicht zur Hütte, vielleicht auch darüber hinweg zur nebelverhangenen Schafbergspitze. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Gemeindepfarrer Sieglmeier die Aufnahme gemacht. Der Pfarrer war einer der wenigen Nußdorfer, die im Besitz eines Fotoapparates waren, und wahrscheinlich hatte ihn die Mutter mit einer scharfen Fischsuppe, frischen Strudeln oder dem Versprechen auf regelmäßige Kirchenbesuche bestochen. Eine einzelne Träne tropfte jetzt auf die Fotografie und bildete einen feuchten, runden Fleck, genau an der Stelle, wo der Arm der Mutter in den Himmel hineinragte. Franz wischte schnell mit dem Daumen darüber und drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand mit hellblauem Buntstift geschrieben:
Mein lieber Franzl,
von Herzen wünsche ich Dir ein frohes Weihnachtsfest und ein gesegnetes neues Jahr.
Deine Mama
PS: Bist Du noch verliebt?
PPS: Wenn Deine Hosen schmutzig sind, kannst Du sie mir schicken.
PPPS: Hör auf, mich mit »Mutter« anzuschreiben, ich bin Deine Mama und aus.
Franz suchte sich eine besonders beeindruckende Karte aus dem Ständer (Johann-Strauß-Statue mit Schneehaube auf dem Kopf und Sängerknaben rundherum) und schrieb mit seiner schönsten Füllfederschrift:
Liebe Mama,
jetzt ist Weihnachten praktisch schon wieder vorbei, und die Sachen aus Deinem Paket sind allesamt weg. Die letzte Zeit war ein bisschen anstrengend, aber im frischen Jahr wird sich sicher alles wieder einrenken.
Dein Franzl
PS: Ich bin noch verliebt.
PPS: Meine Hosen sind nicht schmutzig.
PPPS: Na gut.
Pünktlich zum Silvesterabend war der fiebrige Schnupfen endlich überstanden, und Franz machte sich auf den Weg in die innerstädtische Annagasse, wo er in einem »weltberühmten und hoch angesehenen Tanz-Etablissement«, so versprachen es die in verschiedenen Zeitungen geschickt platzierten Anzeigen, inmitten von hunderten Wienerinnen und Wienern den Jahreswechsel feierte, indem er eine unterm Hemd eingeschmuggelte Dopplerflasche essigsauren Weißburgunders leerte und mit einer dicken Frau Walzer tanzte. Am nächsten Tag, dem ersten des hoffnungsvollen neuen Jahres 1938, bestieg er gleich in der Früh die Straßenbahn und ließ sich durchs Schneegestöber in Richtung Prater ruckeln. Das Riesenrad ragte dunkel und bewegungslos in den Himmel, und die Fahrgeschäfte lagen wie tot unter einer dicken Schneedecke begraben. Die Gassen waren fast menschenleer, nur da und dort stapfte ein verlorener Spaziergänger zwischen den Buden herum. Am großen Sturmboot hingen glitzernde Eiszapfen, und auf der obersten Gondel hockte eine Krähe und hackte mit ihrem Schnabel in den Schnee. Franz ging hinüber ins Schweizerhaus, wo schon die Lichter brannten und der Eingang für den ersten Frühschoppen des Jahres freigeschaufelt war. Er betrat den Gastraum und ging direkt auf den schnauzbärtigen Kellner zu, der hinter dem Tresen stand und mit müdem Lidschlag ein frisch geputztes Glas im trüben Deckenlicht betrachtete.
Ob er dem jungen Herrn irgendwie behilflich sein könne, fragte der Kellner, ohne ihn anzusehen. Franz ließ seinen Blick gelangweilt durch den Raum schweifen und schob nebenbei einen Geldschein über den Tresen. Er hätte da eine Frage, im Grunde genommen nur eine Kleinigkeit, schnell gestellt und noch schneller beantwortet.
Das müsse aber wirklich eine winzigkleine Kleinigkeit sein, meinte der Kellner, zumindest wenn man vom Wert dieses Fetzen Papiers ausgehe. Schweigend holte Franz einen weiteren Schein aus der Jackentasche und legte ihn neben den anderen. Der Kellner stellte das Glas ins Regal zurück und ließ das Geld in seiner Schürze verschwinden.
Mitkommen, sagte er.
Draußen schneite es jetzt noch stärker. Dicke, weiche Flocken sanken lautlos vom Himmel, verfingen sich in den Haaren und blieben an den Wimpern hängen. Franz und der Kellner suchten Schutz unter einer großen Kastanie.
Um welche Kleinigkeit es sich denn genau handle, wollte der Kellner wissen.
Es ginge um eine Landsfrau von ihm, sagte Franz, eine Böhmin.
Nur weil er Tschechisch spreche, meinte der Kellner, sei er noch lange kein Behm, damit das klar sei. In der
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