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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Ruine. Wie der Kellner gesagt hatte, häufte sich links und rechts vom Eingang meterhoch der Schutt. Überall bröckelte der Putz, die Fenster waren entweder grau vom Staub oder mit Brettern vernagelt. Von der Dachrinne hingen bräunliche Eiszapfen, und über einem der Kellerfenster waren mit grüner Farbe die Worte SCHUSCHNIGG, DU JUDENHUND! hingeschmiert. Die Haustür stand weit offen, trotzdem war es im Flur düster und es stank nach feuchten Mauern und Urin. Und noch etwas anderes lag in der Luft: ein süßlich-scharfer Geruch, der Franz wie eine ferne Erinnerung an Zuhause anwehte. Es roch nach Schweinestall. Franz musste ein bisschen in sich hineinlächeln. Vorsichtig ging er die Stiege hinauf, unter seinen Füßen knirschten die Kalkbröckchen und mit jeder Stufe wurde der Gestank intensiver. Zuhause hätte das niemanden gestört, dachte er, ihn selbst schon gar nicht. Im Grunde genommen stanken die Schweine weniger als zum Beispiel die Waldarbeiter nach der Schicht oder die Volksschulkinder nach dem Turnunterricht. Und er selbst war früher sogar hin und wieder in die Ställe der benachbarten Bauern gekrochen, hatte die Ferkel umarmt wie kleine, rosige Brüder und sich mit ihnen ins Stroh hineingekuschelt. Doch hier, zwischen den grauen Stadtmauern war der Geruch ungehörig und widerlich. Im Mezzanin war eine der Türen aus ihrem Rahmen gebrochen, und in dem Zimmer dahinter erkannte er das Schwein. Es war ein riesiges Tier, schwer und bewegungslos lag es auf dem strohbedeckten Kachelboden und schnaufte leise vor sich hin. Auf einer Obstkiste daneben saß eine alte Frau. Sie hatte einen Topf auf ihrem Schoß, in dem sie langsam und gleichmäßig einen Teig verrührte.
    »Entschuldigung, wohnt hier vielleicht eine junge Frau, eine Böhmin?«, fragte Franz. Die Alte starrte ihn kurz an. Dann wies sie mit ihrem Löffel stumm in Richtung Decke. Ein zäher Teigbatzen löste sich und tropfte ihr in den Schoß. Die Sau wälzte ihren Körper auf die andere Seite, hob den Kopf und blickte aus stumpfen Augen gegen die Wand.
    Im zweiten Stock schienen die meisten Wohnungen leer zu stehen, fast überall standen die Türen offen oder fehlten komplett. Nur die Tür der letzten Wohnung, ganz am Ende des Ganges, war unversehrt. Dahinter war undeutliches Stimmengewirr zu hören. Franz klopfte zweimal, und sofort wurde es drinnen still. Ein kurzes Tuscheln war zu hören, dann ein helles »Herein!«
    Franz wischte sich die letzten Schneereste vom Kragen, atmete tief ein und öffnete die Tür. Soweit er auf den ersten Blick erkennen konnte, befanden sich etwa dreißig Frauen im Raum. Sie saßen an kleinen Tischen, auf Stühlen, Kisten, Kübeln. Drei hockten nebeneinander auf dem Fensterbrett wie Vögel auf einem Ast. Manche lagerten auf alten Matratzen entlang der Wände. Zwei junge Mädchen saßen im Schneidersitz vor einem niedrigen Holzkohleofen und spielten Karten; eine Frau stand vor einer Spiegelscherbe an der Wand und schminkte sich mit einem Kohlestift die Augen; eine andere hockte auf einem umgedrehten Wäschekorb und hielt ein winziges Kind an ihre Brust gedrückt.
    »Entschuldigung«, sagte Franz zaghaft, »wohnt hier vielleicht eine junge Frau, eine Böhmin?« Eines der Mädchen kicherte, ein anderes mit wasserblauen Augen hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Lachen. Die anderen saßen einfach nur da und starrten ihn an.
    »Ah, der Burschi mit dem scheenen Popscherl!«
    Er erkannte ihre Stimme sofort. Sie saß mit angezogenen Knien und in eine dünne Wolldecke gewickelt auf einer Matratze. Ihr Haar war unter einem Kopftuch verschwunden und ihr Gesicht lag fast zur Gänze im Schatten der Decke. Doch Franz wusste auch so, dass sie lächelte. Und auch er lächelte jetzt. Und hätte ihn dieses böhmische Mädchen unter ihrer Wolldecke nicht mit den Worten: »Darfst mir bezahlen ein Essen und ein Glaserl Wein, Burschi!« aus seiner glücklichen Erstarrung erlöst, so wäre er wahrscheinlich noch für den Rest des Nachmittags oder darüber mit einem Lächeln in der Tür gestanden, das vielleicht die ganze Welt, mindestens aber diese dreißig Frauen in ihrer feuchten Bruchbude zu umarmen schien.
    Sie hieß Anezka und war drei Jahre älter als er. Sie stammte aus einem »an den Hügel Viničný wie an einen dunklen Liebhaber geschmiegten, wunderscheenen Dorf« namens Dobrovice im Landkreis Mladá Boleslav und arbeitete wahlweise als Kindermädchen, Köchin oder Haushaltshilfe, und zwar ohne behördliche

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