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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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die Schultern, mahlte mit dem Kiefer und fletschte die Zähne. Gleichzeitig krümmte er sich zusammen, beugte seinen Oberkörper und ging in die Knie. Dabei buckelte er und ballte seine Hände zu verkrampften Fäusten. Ein glitzernder Speichelfaden hing von seiner Unterlippe und tropfte auf die Bühnenbretter. Er ließ sich nach vorne fallen, stemmte Knie und Fäuste auf den Boden und starrte mit einem leisen Knurren ins Publikum. Sein Hinterteil senkte sich, mit einem kehligen Geräusch holte er Luft und spannte seine Muskeln zum Sprung an. Plötzlich stand das Narbenmädchen da. »Platz!«, sagte sie mit ruhiger Stimme, und er gehorchte. Mit einem Winseln legte er seinen Kopf zwischen die Vorderbeine und blickte zu ihr auf. Sie hob die Hand, und für einen Moment hatte es den Anschein, als wolle sie ihn schlagen, mit offener Hand mitten hinein in das dumme Hundegesicht. Doch dann lächelte sie. »Braver Adi, lieber Hund!«, sagte sie und kraulte ihn liebevoll hinterm Ohr. Sie zog eine Leine aus ihrer Schürzentasche, legte sie um seinen Hals und ging, das Tier bei Fuß und unter dem Beifall der Leute, in Richtung Ausgang. Kurz vor der Tür sprang Adi auf, riss sich das Bärtchen von der Lippe und gab der Kellnerin einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Die beiden verbeugten sich, und der Conférencier kündigte die nächste Nummer an:
    »Meine Damen und Herren, oder vielmehr: meine damenlosen Herren, ich bin überglücklich, Ihnen eine Weltsensation von allererstem Rang präsentieren zu dürfen! Hinter den hitzeflimmernden Wüsten der Neuen Welt, inmitten der endlosen Weiten der Prärie, an einem Ort, wo der Kojote heult, der Adler seine majestätischen Kreise zieht und allabendlich der Staub gewaltiger Bisonherden das Rot der untergehenden Sonne verdunkelt, an einem Ort, so abgeschieden, wie es nur Hölle oder Paradies sein können, wo die Lachse dem Bären direkt ins gierige Maul springen und unter dem heißen Stein die tückische Schlange klappert, an einem solchen Ort haben wir sie gefunden: nackt und schutzlos im hohen Gras, den mächtigen Naturgewalten ausgeliefert, ein einsames Menschenkind, das zitternde Herz geborgen im erwachenden Körper einer jungen Frau, die letzte Überlebende einer untergegangenen Welt jenseits unserer Zivilisation, einer Welt, in der die Menschheit noch in der ewigen Freiheit der Natur lebte, ganz dem Augenblick hingegeben, ohne Tabus, ohne Schuld und ohne Scham. Meine verehrten Herren, bitte begrüßen Sie mit mir, heute Abend, hier und jetzt: N’Tschina, die scheue Schönheit aus dem Indianerland …!«
    Die Männer ruckelten ihre Hintern auf den Stühlen zurecht, tranken einen letzten Schluck und leckten sich den Bierschaum von den Lippen. Unterdessen hatte das Narbenmädchen auf einem Rolltisch ein riesiges Grammofon zur Bühne geschoben. Der Conférencier legte eine Schallplatte auf und ließ mit einer zärtlichen Bewegung den Tonarm darauf nieder. Aus der Tiefe des Trichters drang ein geheimnisvolles Rauschen, dann setzte die Musik ein. Franz hielt den Atem an. Ein einzelnes Nüsslein rutschte ihm aus dem Mund und fiel in seine Schale zurück. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gehört. Das Grammofon schien die Töne nur unter Schmerzen herauszupressen, der Rhythmus war langsam und stampfend, die Melodie schwermütig, und nur gelegentlich brach ein einzelner, heller Ton daraus hervor. Dann kam der Gesang. Es war unmöglich zu erkennen, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte. Sie war tief, rau und brüchig. Ein Raunen, Klagen und Schluchzen, das von einer fernen Welt zu erzählen schien und sich nur durch irgendeinen komischen Zufall in diese verrauchte Pratergrotte verirrt hatte. Für einen Moment hatte Franz das Gefühl, tief in seinem Inneren öffne sich ein unendlich weiter Raum, gefüllt mit nichts als Traurigkeit. Komisch, dachte er und schloss die Augen, aber aus irgendeinem Grund fühlt sich dieser unendlich weite, mit nichts als Traurigkeit gefüllte Raum gar nicht einmal so schlecht an. Vielleicht, dachte er weiter, könnte man sich da einfach hineinfallen lassen und tiefer und tiefer in sich selbst versinken und nie wieder an die Oberfläche zurückkehren. In diesem Moment hopste der Tonarm mit einem kratzenden Geräusch über die Platte, die Stimme stolperte und Franz öffnete wieder die Augen. Direkt vor ihm, mitten im Scheinwerferlicht, stand die Indianerin. Sie stand mit dem Rücken zum Publikum und bewegte sich nicht. Ihr Haar war pechschwarz und

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