Der Trafikant / ebook (German Edition)
Verkaufsraum gewandert, zu den still in ihren Kisten ruhenden Zigarren, unter ihnen einige der Marke Hoyo de Monterey, was ihn jedes Mal gezwungen hatte, seinen Kopf in den direkt neben dem Bett platzierten Waschkübel zu stecken und den Dingen ihren freien Lauf zu lassen. Um die Mittagszeit wurde es dann etwas besser, und am Nachmittag um halb drei stieg er schließlich mit immer noch etwas weichen Beinen aus dem Bett und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Wiener Westbahnhof.
Etwa eine Dreiviertelstunde später stand er am Bahnsteig inmitten des dichtesten Gedränges ganz hinten am Eingang zur Bahnhofshalle und beobachtete, wie der Professor in den Zug einstieg. Die Entfernung war zu groß, um seine Augen zu erkennen, aber er konnte sehen, wie seine Kiefer mahlten, als ihn seine Tochter die eisernen Stufen hinaufschob. Seine linke Hand umklammerte die Haltestange, die rechte hielt den Hut auf dem Kopf fest. Er wirkte in diesem Moment so schmal und leicht, dass es Franz nicht gewundert hätte, wenn Anna ihn auf den Arm genommen und wie ein Kind hineingetragen hätte.
Pünktlich nach Fahrplan um 15:25 fuhr der Zug an, nahm schnell Fahrt auf und verließ den Bahnhof in Richtung Westen. Franz schloss die Augen. Wie viele Abschiede kann ein Mensch eigentlich aushalten, dachte er. Vielleicht mehr, als man denkt. Vielleicht keinen einzigen. Nichts als Abschiede, wo man auch bleibt, wohin man auch geht, das hätte einem jemand sagen sollen. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, sich einfach nach vorne fallen zu lassen und mit dem Gesicht auf dem Bahnsteigtrottoir liegen zu bleiben. Ein liegengelassenes Stück Gepäck, verloren, vergessen, nur noch umtrippelt von neugierigen Tauben. Aber das ist doch völliger Blödsinn, dachte er wütend, schüttelte den Kopf und öffnete wieder die Augen. Ein letztes Mal blickt er über die Gleise, die im Sonnenlicht blitzten. Dann drehte er sich um und ging durch die Ankunftshalle zurück und hinaus in die Wiener Nachmittagshelligkeit. Der Himmel war strahlend blau, der Regen hatte den Asphalt reingewaschen, und in den Büschen sangen die Amseln. Vor dem Bahnhofseingang stand die Gaslaterne, an der Franz sich damals gleich nach seiner Ankunft in Wien festklammern musste. Wie lange war das her? Ein Jahr? Ein halbes Leben? Ein ganzes? Er musste über sich selbst lachen, über diesen komischen Buben, der hier seinerzeit an der Laterne gehangen hatte, mit dem harzigen Waldgeruch in den Haaren, einem Batzen Dreck an den Schuhen und ein paar verdrehten Hoffnungen hinter der Stirn. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buben nicht mehr gab. Weg war der. Abgetrudelt und untergegangen, irgendwo im Strom der Zeit. Wobei das alles ja schon recht schnell gegangen war, dachte er, vielleicht sogar insgesamt ein bisschen zu schnell. Irgendwie fühlte es sich an, als wäre er vor der Zeit aus sich selbst herausgewachsen. Oder einfach herausgetreten aus dem eigenen Ich, wenn man das so sagen konnte. Das Einzige was blieb, war die Erinnerung an einen schmalen Schatten unter einer Gaslaterne. Er atmete tief ein. Die Stadt roch nach Sommer, Pferden, Diesel und Teer. Über den Gürtel bimmelte eine Straßenbahn heran. Aus einem der Seitenfenster flatterte ein Hakenkreuzfähnchen. Er musste an die Mutter denken, die womöglich jetzt gerade auf einem sonnenwarmen Steg saß und ins flimmernde Ufergeplätscher hinunterweinte. Er dachte an Otto Trsnjek, dessen Krücken nutzlos in der Verkaufsraumecke lehnten. Und er dachte an den Professor, der die Stadtgrenze längst zurückgelassen haben musste und wahrscheinlich schon irgendwo über die niederösterreichischen Erdäpfelfelder in Richtung London sauste. Vielleicht könne man da und dort ein Zeichen setzen, hatte der Professor gesagt, ein kleines Licht in der Dunkelheit, mehr könne man nicht erwarten. Aber auch nicht weniger, dachte Franz und hätte fast laut aufgelacht. Die Straßenbahn bimmelte vorbei und bog in die Mariahilferstraße ein. Das Fähnchen am Fenster sah aus, als ob es tanzte.
»Eines ist ja schon irgendwie komisch: Je länger sich die Tage ziehen, desto kürzer kommt einem das Leben vor. Ein Widerspruch, aber so ist es halt. Und jetzt frage ich Sie: was tun die Leut, um sich das Leben zu verlängern und die Tage zu verkürzen? Sie reden. Sie reden, plappern, plaudern und erzählen, und zwar praktisch ohne jede Unterbrechung. Und auch wenn du manchmal glaubst, jetzt ist es endlich einmal ruhig, sagen wir zum Beispiel in der
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