Der Trafikant / ebook (German Edition)
abgespielt hat. Schauen tun die Leut’ ja nur aus reiner Boshaftigkeit. Weil aber die Boshaftigkeit einerseits neugierig, andererseits aber auch blind macht, sieht man eben nur das, was man sehen will! Unzweifelhaft jedenfalls ist, dass er sich, unbehelligt von der Gestapo und seinem eigenen Gewissen, direkt vor dem Hotel Metropol an einer von den drei großen Standartenmasten zu schaffen machen hat können. Die kennen Sie ja: die drei Hakenkreuzbanner, die den halben Platz verdunkeln und immer so penetrant knattern im Ostwind. Den mittleren hat er sich vorgenommen. Hat einfach die Leine gekappt und das schöne Hakenkreuz von seiner lichten Höh’ heruntergezogen und auf die staubige Erd’ fallen lassen. Ganz faltig und verdreckt ist es dagelegen, wie man es später gefunden hat, schad’ um den schönen Stoff. Angeblich hat er dann ein Packerl unterm Hemd hervorgezogen. Andere wiederum behaupten, ein solches Packerl hätte es nie gegeben, und er hätte das corpus delicti einfach so unverpackt mit sich herumgetragen. Wenn Sie mich fragen, sind solche Feinheiten im Endeffekt egal. Das Einzige, was zählt, sind die Wirklichkeiten und die schauen so aus: Die Leine hat er gekappt, das Adolfkreuz hat er in den Dreck geschmissen und stattdessen hat er seine Sach’ – ob aus einem Packerl oder nicht – festgemacht, aufgezogen und gehisst wie die heilige Flagge des Morgenlandes. Dann war er weg. Wie der Blitz. Dass er noch in den Nachthimmel hinauf salutiert haben soll, halte ich für ein Gerücht, wenn nicht gar für die blanke Übertreibungsangeberei von einigen wenigen Fensterhockern. Auf alle Fälle ist die Gestapo erst angerannt gekommen, als es heller Morgen war und sich dementsprechend schon halb Wien sein schadenfrohes Maul zerreißen hat können. Und jetzt muss man sich natürlich einmal die Gesichter von den Geheimen vorstellen! Praktisch eine einzige Entgleisung. Weil nämlich: am mittleren Fahnenmast, ganz oben an der Spitze und beschienen von den ersten Strahlen der Morgensonne, ist eine Hose gehangen. Und zwar eine braune Herrenhose mit Bundfalten, soweit man das von unten hat erkennen können. Die ist einfach so da oben gehangen, ein bisserl zerknittert, ein bisserl ausgebeult, ansonsten tadellos, also eigentlich unauffällig. Aber bekanntlich steckt ja gerade im Unauffälligen oft auch das Unerhörte. Und deswegen ist dann unten am Boden gleich das Theater losgegangen. Jeder hat sich mit jedem gestritten, und alle haben alle angeschrien, und vor lauter Aufregung hat man ziemlich lang nicht daran gedacht, die Hose von da oben herunterzuholen. Als dann aber endlich doch einer auf die Idee gekommen ist, an der Leine zu ziehen, ist etwas wirklich Bemerkenswertes passiert. Genau in dem Moment ist nämlich ein Wind aufgekommen. Ein plötzlicher Windstoß, eine Bö, ein Blaserl, wie auch immer Sie das nennen wollen. Jedenfalls hat dieser plötzlich einsetzende Wind sich in der Hose verfangen und sie sozusagen aufgerichtet. Und jetzt kann man sich natürlich vorstellen, wie sich die geheimen Gesichter endgültig in die verschiedensten Ausdrucksvariationen blöden Erstaunens oder erstaunter Blödigkeit verformt haben. Weil: Das war keine normale Hose. Es war praktisch nur eine halbe. Eine einbeinige Hose war das. Das andere Hosenbein war ungefähr auf Kniehöhe abgeschnürt. Der Wind ist also in diese einbeinige Hose hineingefahren, genau in dem Moment, wo man sie herunterholen hat wollen. Und da hat sich vor aller Augen etwas tatsächlich Merkwürdiges abgespielt: Eine Weile ist die Hose also einfach so herumgeflattert, aber dann, ganz plötzlich, ist sie stillgestanden, ist praktisch waagrecht in der Luft gelegen. Und für einen kurzen Augenblick hat dieses braune, zerknitterte und schon ein bisserl ausgebeulte Hosenbein dort oben im Himmel ausgesehen wie ein Zeigefinger. Wie ein riesiger Zeigefinger, der den Leuten einen Weg weist. Wohin der genau gezeigt haben soll, bleibt natürlich allerhöchstens Spekulation. In jedem Fall aber weg, wenn Sie mich fragen, weit, weit weg. So, und jetzt sind S’ so lieb und geben S’ mir noch ein Taferl Schokolad’. Mit Nüssen. Und zahlen möcht ich dann gern beim nächsten Mal, wenn’s Ihnen nicht pressiert. Ich danke recht schön, habe die Ehre und auf Wiederschauen!«
Die ganze Nacht über war Frau Huchel wachgelegen und hatte in die tiefe Dunkelheit zwischen den Deckenbalken hinaufgestarrt. Schon im Laufe des gestrigen Abends hatte sich eine merkwürdige Unruhe
Weitere Kostenlose Bücher