Der transparente Mann (German Edition)
Gefühl, dass hier etwas nicht in Ordnung war.
»Guten Morgen.« Sie gab ihrer Mutter einen Begrüßungskuss, die heute besonders still an ihrem aufgeräumten Schreibtisch saß.
»Hallo, Joe.« Wie abwesend blickte Hilda Benk wieder auf die aufgereihten Muranoglasfiguren, zerbrechliche Andenken an ihre Hochzeitsreise, die einzige Fahrt ins Ausland, die sie jemals mit ihrem Mann Werner unternommen hatte. In Grado, da war sich Hilda ganz sicher, war Joe in einem Hotel am Meer gezeugt worden, begleitet von den aus der Musikbox heraufklingenden Liedern über Liebe und Sehnsucht.
Jetzt schritt der romantische Held aus Joes Kinderträumen aufgeregt durchs Büro. Die Röte in Werner Benks Gesicht zeugte gefährlich von Bluthochdruck. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Wir haben den Auftrag!« Er sprach so laut, dass die Monteure im Hof ihn hören konnten.
»Wir haben den Auftrag«, dröhnte es wieder und wieder in Joes Ohren. Es war ein Fünfhunderttausend-Euro-Auftrag. Es war der größte des Jahres, und er würde die Firma wieder in die schwarzen Zahlen katapultieren.
»Dir ist schon klar«, fuhr Werner Benk fort und fixierte seine Tochter mit ernstem Blick, »dass wir damit alle Sorgen los sind. Wir können die offenen Lieferantenrechnungen bezahlen. Und einen neuen Transporter, denn den brauchen wir dringend.«
»Ja, und? Was willst du damit sagen?« Joe wusste selbst, wie wichtig dieser Auftrag für das Konto und Image der Firma war. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie im Jeansrock und mit gelben Gummistiefeln über die neu entdeckte Großbaustellte gestapft war, um Herrn Wagenscheidt die Firmenunterlagen in die Hand zu drücken.
Fast wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan, denn sie ahnte schon, was sie nun erwartete.
»Du kannst jetzt nicht studieren! Das weißt du selbst am besten!«
Unweigerlich schössen Joe Tränen in die Augen, denn sie wusste das wirklich nur zu gut.
»Wir schaffen das einfach nicht ohne dich«, mischte sich ihre Mutter mit sanfter Stimme ein.
»Aber am Montag beginnt die Uni! Ich bin längst immatrikuliert.« Joe versuchte, selbstbewusst zu klingen. Trotzdem hörte es sich jämmerlich an.
»Ohne dich müssen wir ablehnen. Du musst dich entscheiden.«
Täuschte sich Joe, oder hörte sie da einen verzweifelten Unterton in der Stimme ihres Vaters? Aufmerksam sah sie zu ihm hinüber. Nach alter Bau-Manier kickte er mit dem Feuerzeug den Kronenverschluss von der Bierflasche. Normalerweise trank er tagsüber nicht. Aber heute war kein Tag wie jeder andere. Heute war der Tag, an dem er sie um etwas bitten musste. Zum ersten Mal kam es Joe so vor, als wäre er nicht so stark, wie sie immer angenommen hatte. Die beiden senkrechten Falten zwischen Augenbrauen und Nasenwurzel erschienen ihr tiefer als sonst. Das Gespräch fiel ihm sichtlich schwer.
Er schien ihren Blick zu spüren. Abrupt stand er auf, ging zum Kühlschrank und entnahm ihm eine zweite Flasche Bier, die er auf dieselbe Art mit dem roten Einwegfeuerzeug öffnete. Er reichte sie Joe. »Du kannst jetzt sicher auch einen Schluck vertragen.«
»Danke.« Soweit Joe sich erinnern konnte, hatte er ihr noch nie ein Bier geholt.
Joe trank langsam, weil das Trinken ihr Zeit verschaffte. Sie musste nachdenken. Sie dachte an Konstantin, neben dem weiterhin eine Frau im Bett liegen würde, die trotz leidenschaftlicher Duschorgien stets das vage Gefühl beschlich, immer noch leicht nach Gas, Wasser und Scheiße zu riechen, obwohl Konstantin ihr lachend versichert hatte, noch nie eine Frau geliebt zu haben, die so gut roch wie sie, Joe. Nein, wie Johanna. Eine Joe kannte Konstantin ja nicht.
»Du könntest doch im nächsten Sommer mit dem Studium anfangen. Es geht ja nur um ein Semester. Der Auftrag ist wichtig«, fuhr Werner Benk jetzt etwas ruhiger fort. »Ich würde dir sogar die alleinige Leitung der Baustelle übertragen.«
»Wirklich?« Joe konnte es kaum glauben.
»Wagenscheidt hat das vorgeschlagen«, knurrte er. »Ich weiß zwar nicht, wie du das angestellt hast, aber auf jeden Fall hast du ihn beeindruckt. Na gut. Morgen muss ich wissen, wie du dich entschieden hast.«
Ihre erste eigene Großbaustelle! Eine Baustelle, die sie ganz allein leiten dürfte! Es galt, über hundert Bäder, über hundert Küchenanschlüsse, unzählige Toilettenanlagen, zwei Hebeanlagen, mehrere Abläufe, meterlange Regenrinnen und viele, viele Kilometer Be- und Entwässerungsleitungen zu verlegen. Endlich hätte Joe die
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