Der transparente Mann (German Edition)
wollte seine Träume nicht stören, und Sekunden später war Konstantins Haus aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Wie vermutet war der Firmenparkplatz leer. Joe war heilfroh, allein im Büro zu sein. Sie setzte sich an den Schreibtisch ihres Vaters, auf dem die Leistungsverzeichnisse und die Pläne jener Großbaustelle lagen. Wie immer, wenn sich Joe in ein Projekt vertiefte, vergaß sie darüber die Zeit, bis das Klingeln ihres Handys sie jäh aus der Arbeit riss. Ihr Herz hüpfte, als sie Konstantins schmeichelnde Stimme vernahm. Es war bereits vier Uhr am Nachmittag, und er rechnete es ihr hoch an, ihn nicht geweckt zu haben. Der lange Schlaf hatte ihn erfrischt, wie er sagte. Jetzt sei er bester Laune und bereit, sie die ganze Nacht zu lieben.
Joe lachte. Schlagartig fühlte sie sich glücklich.
»Geht es dir heute besser?« Seine Stimme schien sie zu liebkosen.
»Viel, viel besser. Tut mir leid, dass ich gestern so schlecht drauf war.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Aber ich habe Sehnsucht nach dir.«
»Ich auch nach dir.«
Sie verabredeten sich für kurz vor acht Uhr. Sie waren zu einem privaten Abendessen eingeladen, wie Konstantin ihr überraschend mitteilte. Julia und Hans Grafenberg, bedeutende Kunstsammler, waren seit Jahren mit Konstantin befreundet. Er hoffte, ihnen einen Edward Weston vermitteln zu können. Die Provision, die er dadurch verdienen konnte, war immens hoch. Wenn alles gut ging, so hatte Konstantin versprochen, würde er Joe zu einem Luxuswochenende nach Rom einladen.
Allein bei dem Gedanken daran verfiel Joe in Träumerei. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Hastig räumte sie den Schreibtisch auf, und als sie wenige Minuten später in ihrem Auto saß, nahm sie sich vor, eine dicke Gehaltserhöhung zu fordern, da sie sowieso die am meisten arbeitende, aber am schlechtesten bezahlte Mitarbeiterin der Firma war. Und von dem Geld würde sie sich in Rom viele, viele neue Kleider kaufen.
Das prunkvolle Tor zur breiten Einfahrt öffnete sich automatisch, und der Kies knirschte unter den Autoreifen, als sie durch den Park mit stolzen Zypressen und kugelig geschnittenen Buchsbäumen vor die Villa der Grafenbergs fuhren. Mit den brennenden Fackeln an der Eingangstür mutete die Villa in der Dunkelheit wie ein Märchenschloss an.
Ein Hausangestellter öffnete die Tür. Joe streckte ihm freundlich die Hand entgegen, da sie ihn für den Herrn des Hauses hielt.
»Die Herrschaften sind im Salon«, sagte der Butler distinguiert.
Joe wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Na, Herr Hartmann, wie geht's?«, fragte Konstantin.
Über das Gesicht des Butlers huschte ein höfliches Lächeln. »Danke, Herr Wastian. Sehr gut.«
Konstantin legte den Arm um Joe, als sie Herrn Hartmann in den Salon folgten. In der Eingangshalle und auch im Salon standen überall Skulpturen. Joe ahnte, dass auch die Bilder und die Fotografien an den Wänden ein Vermögen wert sein mussten.
Julia und Hans Grafenberg erhoben sich aus ihren Clubsesseln, die vor dem knisternden Kamin standen, und kamen mit einem herzlichen Lächeln auf sie zu. Hans Grafenberg war ein stattlicher Mann, der eine natürliche Autorität ausstrahlte. Obwohl er die sechzig bereits überschritten hatte, war er sich noch immer seiner Wirkung auf Frauen bewusst. Sein Händedruck war fest, als er Joe von oben bis unten musterte.
»Jetzt weiß ich, warum Konstantin Sie so lange vor mir versteckt hat.« Wohlwollend drückte er noch kräftiger zu.
Da er offenbar keinen Kommentar erwartete, lächelte Joe und beobachtete dabei aus den Augenwinkeln, wie Julia Grafenberg, eine Frau um die vierzig, Konstantin charmant begrüßte. Joe erinnerte sich, diese Frau bereits auf der Vernissage bemerkt zu haben. Jetzt trug sie ein schlichtes sandfarbenes, aber raffiniert ausgeschnittenes Kleid, das Joe in der Auslage eines jener noblen Geschäfte in der Maximilianstraße gesehen hatte. Ihr Hals wurde von einer breiten, goldenen Kette geschmückt, und das blonde Haar fiel ihr weich ins Gesicht. Joe wurde bewusst, dass ihr eigenes Kleid von H&M war und mit Sicherheit weniger gekostet hatte als das Parfum dieser Dame.
Der Champagner, der von Herrn Hartmann gereicht wurde, löste Joes Beklemmungen angesichts all dieses Prunks, und als das Dinner kurz darauf im Speisezimmer bei Kerzenschein serviert wurde, hatte Joe bereits ihre Verlegenheit vollkommen überwunden. Ungezwungen lachte sie mit Hans Grafenberg, der ihr gegenübersaß und höchst witzig eine
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