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Der transparente Mann (German Edition)

Der transparente Mann (German Edition)

Titel: Der transparente Mann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sixt , Barbara Wilde
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ihr sagen.

Vier
    Wie Hühner auf der Stange standen die Handwerker auf dem Außengerüst des gigantischen Rohbaus. Ungeniert musterten sie Joe. Einige pfiffen anerkennend. Diese altbekannte chauvinistische Attitüde, die Joe immer registrierte, wenn sie zum ersten Mal auf einer neuen Baustelle erschien, auf der die Arbeiter sie noch nicht kannten, berührte sie längst nicht mehr. Sie lächelte selbst dann noch vergnügt, als einige Handwerker so dreist pfiffen, als wäre sie das Pin-up-Girl in ihrem Spind. Dabei war Joe in ihrem Blaumann, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, von einem Pin-up-Girl so weit entfernt wie Angelina Jolie von einer Klempnerin.
    »Sie können ruhig weiterarbeiten, meine Herren. Ab heute komme ich täglich«, rief Joe gut gelaunt und blickte dabei nach oben in die von Wind und Wetter gegerbten Gesichter.
    Wie eine laute Fanfare drang hemmungsloses Gelächter zu ihr herunter. Joe blieb stehen. Sie hatte die fatale Doppeldeutigkeit ihrer Worte erkannt.
    »Ich auch«, tönte es wie ein Echo zurück.
    Joes Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Sie wusste, dass dies der Zeitpunkt war, um sich hier ein für alle Mal Respekt zu verschaffen. Souverän fixierte sie den Mann, der am lautesten gebrüllt hatte. »Jetzt verstehe ich«, sagte sie und betonte jedes ihrer Worte pointiert und genüsslich, »deshalb brauchen Sie wohl auch diese Pause.«
    Verblüfft über diesen coolen Konter lachten die Männer noch lauter. Aber diesmal galt das Lachen nicht ihr, sondern dem Mann, den Joe fixiert hatte. Er war ein anständiger Verlierer. Er grinste und nahm die Arbeit wieder auf. Das war auch für die anderen das Signal: Die Show war zu Ende, der Applaus gehörte Joe.
    Sie betrat den Rohbau, in dem es nach frischem Mörtel roch. Die ganze Nacht hatte es wie aus Badewannen geschüttet, aber zum Glück standen Wände und Decken so weit, dass die gewaltigen Wasserfluten keinen Schaden mehr an der Bausubstanz hatten anrichten können. Aufmerksam ging Joe von einer Etage in die andere, um zu überprüfen, ob sich die Schlitze und Aussparungen für die Rohrleitungen an ihrem planmäßigen Platz befanden und ihre Männer und sie morgen mit den Arbeiten beginnen konnten.
    Hilda Benk blickte nur kurz vom Computer auf, als Joe am späten Nachmittag das Büro betrat, nachdem sie das Material im Lager hinter dem Haus hergerichtet hatte. Als das Telefon im Büro klingelte, wünschte sich Joe, gleich Konstantins sonore Stimme zu hören. Aber es war nur Franz Wagenscheidt. Er erkundigte sich, ob die Arbeiten morgen wie vereinbart beginnen würden.
    »Alles bestens, ich komme gerade von der Baustelle. Morgen fangen wir an. Mit vier Mann.« Joe war voller Elan, bis sie den autoritären Blick ihres Vaters spürte, der gerade das Büro betreten hatte.
    »Gib ihn mir mal!« Er sprach zwar leise, ließ jedoch dennoch nicht den gewohnten Befehlston vermissen.
    Joe drehte ihm den Rücken zu, setzte ihr Gespräch fort und sagte höchst freundlich: »Ja, ganz wie geplant. Das Material ist auch schon hergerichtet.«
    »Was ist mit dem Raum dafür? Hast du an die Bautür gedacht?« Schon wieder stand ihr Vater vor ihr. Er redete jetzt so laut dazwischen, dass es peinlich wurde. So gut es ging, versuchte Joe, ihn zu ignorieren, und verabredete sich mit Wagenscheidt für den kommenden Tag. Dann legte sie den Hörer auf. Wütend blitzte sie ihren Vater an:
    »Bitte lass das in Zukunft! Willst du mich als unfähig hinstellen, oder was sollte dieses ständige Dazwischenreden?«
    »Hast du die Aussparungen für die Rohrleitungen mit den Plänen verglichen?« Ihr Vater hielt weder eine Antwort noch eine Rechtfertigung, geschweige denn eine Entschuldigung für nötig.
    »Ja, ja, ja! Das habe ich alles erledigt! Aber ist das jetzt deine oder meine Baustelle?«
    »Es ist immer noch meine Firma!«
    »Wie konnte ich das vergessen!« Die Ironie in Joes Stimme war nicht zu überhören.
    »Dann denk auch daran! Es darf nichts schief gehen. Wagenscheidt ist schließlich unser größter Kunde.«
    »Ich weiß. Ich habe ihn ja selbst an Land gezogen.« Joe zwang sich zur Ruhe.
    »Du bist unverschämt.«
    »Nein. Ich möchte nur, dass du aufhörst, dich einzumischen. Es ist meine Baustelle.«
    Sichtlich verblüfft starrte ihr Vater sie an.
    »Hört auf zu streiten«, mischte sich Hilda Benk ein. Sie stand auf und schlüpfte in ihren Mantel. Es war fast sechs. Sie hatte nun Feierabend und wollte wie jeden Abend noch ein wenig allein spazieren gehen, um

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