Der transparente Mann (German Edition)
geschafft, sich hundertprozentig zu entlieben. Einen Traum loszulassen, war einfach verdammt schwer, besonders wenn man geliebt hatte.
Vielleicht ist dieses sinnlose Leiden typisch für Frauen, dachte Joe und erhob sich vom Bett. Aus dem Holzkästchen, das sie in ihrem Kleiderschrank verwahrte, nahm sie die filigranen Ohrringe und betrachtete sie nachdenklich. Sie waren ein Geschenk von Konstantin. Damals waren sie sechs Monate ein Paar gewesen. Wie immer an diesem besonderen Tag hatten sie genüsslich im »Piccoli« gespeist. Blaugrün schimmerten die Steine in der Farbe ihrer Augen. Vielleicht schmückte er alle seine Frauen mit Ohrringen in ihrer jeweiligen Augenfarbe, weil es so liebevoll und persönlich wirkte?
Joe lachte auf. Ein bitteres Lachen. Nie mehr wollte sie diesen Schmuck tragen. Doch er war zu schade für den Müll und konnte ja nichts für das schändliche Verhalten seines Überbringers. Joe wunderte sich über ihre Emotionslosigkeit. Sie spürte nichts, als sie sich die Nacht in Erinnerung rief, die diesem Abend gefolgt war. Konstantins makellose Hände ohne Schwielen und Schrammen, die ihren Körper liebkost hatten, während er ihr all die zärtlichen Worte ins Ohr geflüstert hatte, die sie so gern hörte. Ihr Herz war so kalt wie ihre Hände.
Sie verstaute die wertvollen Stücke wieder in der mit rotem Samt ausgelegten Holzschatulle, setzte sich an den Schreibtisch und drückte eine Taste. Der schwarze Bildschirm flackerte auf und zeigte ihr die Webpage, die fast vollendet war. Plötzlich klingelte ihr Handy. Eine SMS von ihm. Minutenlang starrte sie auf die Meldung. Er schrieb:
Rom ist ohne dich nur halb so schön.
Der letzte Funke von schlechtem Gewissen, der sich in ihrem Kopf eingegraben hatte, verglimmte. Sie verzichtete auf eine Antwort, kletterte hektisch auf einen Stuhl und fischte ganz oben im Schrank nach dem Karton, in den sie seine Fotos verbannt hatte. Sie entschied sich für das, auf dem er so unwiderstehlich lächelte. Dann schaltete sie ihren Scanner ein, scannte das Foto ein, und die Bilddaten wurden auf die Webpage übertragen. Im beigefügten Text schrieb sie von den Rosen, die er so vielen Frauen schickte, von seinen Geschenken, seinen Lügen über Liebe und Treue, von der anderen, mit der er nach Rom gefahren war, und den Liebeserklärungen, die sie noch immer von ihm bekam, bevor sie die neue Webpage endlich ins Netz stellte.
Das Morgenlicht fiel bereits durch ihr Dachfenster, aber Joe fühlte sich fit und wach. Sie nahm noch die Adressen von Stefanie, Anna, Monika und Julia in den Verteiler ihres kleinen Rundschreibens auf und drückte auf »Senden«. Ihr Puls hämmerte, als die E-Mails verschickt waren. Jetzt hatten sowohl die vier anderen Frauen als auch alle Tageszeitungen, Illustrierten und Magazine die Information über die neue Webpage in ihrer elektronischen Post. Nur Konstantin blieb ahnungslos, wenngleich Joe sich sicher war, dass er sehr bald davon erfahren würde.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als Joe nun auf Zehenspitzen ins Bad schlich, um Alf und Thomas in ihren Liebesträumen nicht zu stören. Sie hoffte für Alf, dass er nicht so enttäuscht werden würde wie sie. Eiskalt lief das Wasser der Dusche über ihren Körper, aber es tat gut. Danach zog sie ihren Blaumann an. Heute würde sie endlich wieder singen, wenn sie auf die Baustelle fuhr. Heute war ein guter Tag.
Sechs
Tage schleichen quälend dahin, wenn man auf etwas wartet, von dem man sicher weiß, dass es eintreten wird. Nur wann die selbst gebastelte Bombe zündet, die alles durcheinander wirbelt, verändert oder sogar zerstört, ist stets die große Unbekannte in der Rechnung. Allein das geheime Wissen darum, dass etwas passieren würde, hielt Joes Adrenalin auf einem nervösen Spannungsniveau. Jede neue Kurzmitteilung, jedes Klingeln ihres Handys und das Einschalten des Computers, um auf der Webpage eventuelle Kommentare oder E-Mails zu checken, boten neue Herausforderungen für ihr Nervenkostüm. Doch die Reaktionen ließen auf sich warten. Das Meer der Emotionen war erstaunlich ruhig, keine Welle war in Sicht, von einem Sturm ganz zu schweigen.
Joe war ein bisschen enttäuscht. Fast eine Woche war dahingetröpfelt, in der Konstantin sicher längst von Julia, Monika, Stefanie oder Anna zugetragen worden war, was für eine disqualifizierende menschliche und männliche Beurteilung über ihn im Internet zu finden war. Sicher hatte er längst selbst gelesen, was Joe über
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