Der transparente Mann (German Edition)
Joe. Sie war gekränkt. Ihr war der Hunger vergangen. Sie überließ den restlichen Leberkäse der Fliege.
Nach jenem streitbaren Picknick fuhr Joe noch am späten Nachmittag mit Marc in die Firma. Wohlweislich vermieden sie beide, das Thema Männer, Liebe, Rache oder Eifersucht nochmals aufzugreifen oder gar zu vertiefen. Alles war gesagt. Jetzt gab es wichtigere Dinge zu besprechen als Privatleben und Webpage. Das Kapitel Webpage war entschieden und vollbracht. Heimlich hatte Joe sich manchmal gescholten, wie viel Raum ihr Herz neben ihrem sonst so übermächtigen Verstand eingenommen hatte. Ausgerechnet sie, die sonst ihre Arbeit gewissenhaft, ja beinahe wie eine Besessene erledigte, hatte sich mehrfach dabei ertappt, wie ihre Gedanken auf Wanderschaft gegangen waren und sie den Tag auf der Baustelle nur mechanisch hinter sich gebracht hatte. Jetzt aber spürte sie die gewohnte Energie zurückkehren. Gleich morgen wollte sie herausfinden, wo beispielsweise die fehlende Pumpe abgeblieben war. Außerdem musste sie dringend Wagenscheidt auf die Füße treten, da die Firma, die den Estrich in einem neuen Trakt des Gebäudes liefern sollte, den Termin noch immer nicht bestätigt hatte. Jetzt aber galt es, das Material für die nächsten Tage herzurichten: Isoliermaterial und Befestigungen neigten sich im Materiallager dem Ende zu, und sie durfte nichts vergessen.
Aus ihrer Umhängetasche holte sie die Materialliste, die sie bereits aufgestellt hatte, und überprüfte, ob ihr nicht doch noch etwas entgangen war, während Marc sie mit einer Hand am Steuer lässig durch die Stadt chauffierte. Sein Rad, das zwar alt, aber seiner Meinung nach das beste der Welt war, wurde hinten im Kastenwagen transportiert. Während Joe am anderen Ende der Stadt wohnte, lag Marcs kleines Appartement nur zehn Minuten von der Firma entfernt.
»Der Kessel sollte in den nächsten Tagen geliefert werden«, sagte sie in die Stille hinein; auch Marc schien irgendetwas gedanklich zu beschäftigen. »Ich konnte Wagenscheidt überreden, keinen billigen zu nehmen. Qualität hat zwar seinen Preis, aber langfristig lohnt es sich, ein wenig mehr auszugeben.«
»Kompliment!« Marc schenkte ihr ein knappes Lächeln, bevor er seine Augen konzentriert auf den Verkehr richtete.
Sein von der Herbstsonne ein wenig gerötetes Gesicht wirkte ungewöhnlich angespannt. Vielleicht lag es am Verkehrschaos, das wie an allen sonnigen Feiertagen auf der Leopoldstraße herrschte. Die Autofahrer hupten, schimpften und kämpften verbissen um die wenigen Parkplätze. Es ist eine Vorliebe der Münchner, nach dem Trip in die nahen Berge oder den Englischen Garten vor den vielen Cafés noch ein Eis zu naschen. Man sitzt hier wie auf einem Logenplatz, um das bunte Treiben auf dem Fußweg der Begierden zu beobachten. Die Männer gucken dabei den Mädchen ganz ungeniert unter die kurzen Röcke, schauen den ganz Sportlichen zu, die auf Rollschuhen ihre Bahnen ziehen, und all das wird von den verschiedensten Piep- und Klingeltönen musikalisch untermalt, da jeder sein neues Fotohandy gut sichtbar auf dem Tisch liegen hat.
Marc ließ den Verkehr bald hinter sich, bog in die kleine Seitenstraße im nahen Industriegebiet ab, wo das verwitterte Schild auf den Sitz der Firma Benk verwies. Es ist ja kaum noch zu lesen, schoss es Joe durch den Kopf, sie verwarf aber den Gedanken, mit ihrem Vater über ein neues zu sprechen, das zudem imposanter als das alte sein müsste. Schließlich, dachte sie trotzig, war es nicht ihre Firma. Er hatte ja die Weisheit gepachtet, und was ging es sie noch an, da sie der Firma sowieso bald den Rücken kehren würde? Merkwürdig. Der Gedanke an das Unileben, das Stimmengewirr in der Mensa, das Büffeln in großen Hörsälen und das Erreichen eines Diploms löste in Joe längst nicht mehr dieses euphorische Hochgefühl aus wie noch vor wenigen Monaten.
Das große Eisentor stand sperrangelweit offen. Marc fuhr auf den Hof, auf dem neben Firmen wagen überraschenderweise der alte graue Daimler ihres Vaters parkte. Der Lack glänzte, obwohl er dreißig Jahre Zeit gehabt hätte zu verblassen, aber Werner Benk war penibel, wenn es um seinen Daimler ging. Er putzte und wienerte ihn so genüsslich, dass er jetzt ein Schmuckstück war.
Es war kurz vor Monatsende. Da ihr Vater sich allein daheim langweilte, wenn nicht gerade ein Fußballspiel übertragen wurde, nervte er gerade sicher ihre Mutter, die bestimmt über der Buchhaltung brütete. Ihr Vater war an
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