Der transparente Mann (German Edition)
diesem Tag für den Notdienst eingeteilt und hatte deshalb nicht zu seinem Männertreffen verschwinden können. Hatte er frei, ging er gewöhnlich zum Frühschoppen oder zum Stammtisch und trank hier und da schon einmal eine Maß zu viel. Joe hatte ihre Mutter nie darüber klagen gehört, dass sie nicht wie andere Ehepaare auch mal durch den Englischen Garten bummelten oder einen Ausflug in die Berge unternahmen. Gemeinsamkeit schien für beide ein Fremdwort zu sein. Dabei liebte ihre Mutter die Natur. Sie unternahm jeden Tag nach Feierabend noch einen ruhigen, ausgedehnten Entspannungsspaziergang, von dem sie meist einen bunten Blumenstrauß mitbrachte, der ihren Schreibtisch schmückte und dem Büro mit den faden Wänden und den Furniermöbeln Lebendigkeit und Wärme schenkte. Diese Zeit für sich allein war ihrer Mutter heilig. Höchstens ein Notfall, ein Herzinfarkt in der Familie oder eine Feuersbrunst konnten sie theoretisch dazu bewegen, darauf zu verzichten.
Ein schrecklich trostloses Leben, wenn dies das einzige Glück sein sollte, befand Joe.
»Woran denkst du?« Marc hatte den Motor abgestellt, nachdem er den Pick-up parallel zum Daimler ihres Vaters geparkt hatte. Der Pick-up hob sich in seinem staubigen Gewand jetzt krass von seinem gepflegten Nachbarn ab. Marc sah sie an.
»Ich dachte, dies wäre eine typische Frauenfrage.« Ihr Ton war reservierter als beabsichtigt. Sie hatte keine Lust mehr auf weitere Diskussionen. Deshalb wollte sie jetzt Marc mit ihrem Standardspruch abfertigen, den sie immer dann aufsagte, wenn sie ungewollt nach ihren Gedanken gefragt wurde. Der Einzige, der hinter ihre Stirn hatte blicken dürfen, war Konstantin gewesen. Mistkerl! Nur gut, dass sie ihm nicht auch noch das Buch mit ihren geheimsten Wünschen und Träumen auf einem Silberteller präsentiert hatte. Das Buch Let'stalkaboutlove hatte sie längst beerdigt.
»Du bist heute richtig zickig«, erwiderte Marc schroff, stieg aus und lief mit seinen langen Beinen extra schnell auf Werkstatt und Lager zu, obwohl er keinen Schlüssel dazu hatte. Das flache Gebäude war ebenso grau und unscheinbar wie das triste Büro. Aus seinem Laufschritt schloss Joe, dass er gekränkt war. Es nervte sie, wie er mit abweisendem Gesicht an der Tür zum Lager wartete.
»Marc, jetzt sei keine Mimose.«
Er brachte zumindest ein Grinsen zustande.
»War halt sehr persönlich, was ich gedacht habe.«
»Ach so. Sehr persönlich.« Er wiederholte das in diesem speziellen Tonfall, der Joe auf die Palme brachte, und fügte hinzu: »Ich kann nicht kapieren, warum du ständig an diesen Kerl denkst. Ist er das wert? Lass los, kümmere dich nicht um ihn, sondern genieße das Leben.«
»Ich habe nicht an ihn gedacht.«
Sein Blick sprach Bände.
Ihrer auch. Wozu sich rechtfertigen?
Joe schloss auf, und sie traten ins Lager ein, in dem es penetrant nach Metall roch. Kalt und klamm drang die Luft durch Joes dünnes Shirt. Sie fröstelte, zog den Pullover an, der lässig um ihre Hüften gebunden gewesen war, und knipste das Licht an. Der Boden war betoniert, und die Neonröhren in dem fast fensterlosen Raum warfen jetzt unbarmherzig grelles Licht zu Boden. Normalerweise hätte Joe längst einen Aufräumtrupp abkommandiert oder persönlich zu Besen und Farbtopf gegriffen. So unordentlich, wie sie in ihrem Privatleben war, so penibel war sie, wenn es um die Ordnung in Büro und Lager ging. Aber sie wusste, ihr Vater würde diese Anstrengung nicht würdigen.
Während Marc Befestigungsmaterial zusammenstellte und Joe weiter nach Kisten mit Schrauben suchte, kam sie zu der Überzeugung, dass ihre Eltern den Sex miteinander sicher beerdigt hatten. Einen intimen Kuss, eine versteckt zärtliche Berührung hatte sie seit Jahren nicht mehr bei ihnen beobachtet. Nur auf Urlaubsfotos aus Joes Kindertagen hatte ihr Vater den Arm um die schmale Taille seiner Frau gelegt. Und einmal hatte sie ein Foto aus Garmisch gesehen, auf dem sie sich küssten. Ein halbes Leben lag das zurück! So freudlos wollte Joe nie enden.
Unwillig schüttelte sie die Überlegungen ab und konzentrierte sich wieder auf die Liste.
»Kommst du noch mit hoch ins Büro?«, fragte sie, als das Material eine Stunde später zusammengestellt war und in großen Stapeln neben dem Eingang lagerte, damit ohne Verzögerung in der Früh beladen werden konnte.
»Brauchst du mich denn noch?«
»Eigentlich nicht«, murmelte Joe und ärgerte sich trotzdem, dass er gleich nach Hause radeln
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