Der transparente Mann (German Edition)
Dann würde er auch verstehen, warum sie heute mit ihren Gedanken nicht so recht bei der Arbeit war. Denn sie dachte an all die Frauen, die sich jetzt besser fühlten, weil sie, Joe Benk, ihnen ein Forum geboten hatte.
Zwei weitere Meter Glaswolle, dann konnte Joe doch nicht länger mit ihrer Neuigkeit hinterm Berg halten, sonst wäre sie daran erstickt. »Übrigens, nur dass du es weißt: Die Webpage ist ein totaler Erfolg«, platzte sie heraus und blickte Marc erwartungsvoll an.
Schweigen. Marc ignorierte ihre Mitteilung.
»Siehst du, ich hatte Recht«, versucht Joe es nochmals. »Ich werde mit Mails geradezu bombardiert!«
Was sollte dieses beklemmende Schweigen?
»Freust du dich nicht mit mir?« Joe blickte ihn verunsichert an. Da war plötzlich dieses Gefühl, als schnürte ihr jemand die Luft ab. Am liebsten hätte sie Marc geschüttelt, damit er endlich etwas sagte. Aber das ließ sie dann doch lieber bleiben. Er stand ja neben ihr auf dem wackligen Gerüst.
»Warum sollte ich mich über ein Forum für Denunzianten freuen?« Marcs Gesichtsausdruck war Joe fremd.
Denunzianten? Joe war schockiert. »Das hat doch nichts mit Denunzieren zu tun«, versuchte sie, sich zu rechtfertigen. »Frauen schreiben nur über ihre persönlichen Erfahrungen. Sie können endlich mal ihr Herz ausschütten. Was meinst du, wie gut ihnen das tut? Das ist eine totale Erleichterung. Das hat mit Denunzieren wirklich nichts zu tun.«
»Doch.«
»Vielleicht hast du ja auch was zu verbergen und bist nur deshalb so dagegen«, rief Joe empört. Sie provozierte ihn aus lauter Enttäuschung. »Vielleicht hast du ja auch ein paar Freundinnen, die nichts voneinander wissen. Du tust zwar immer so harmlos, aber …«
»Joe, hör auf«, sagte Marc mit einer plötzlichen Schärfe, die jeden zum Schweigen gebracht hätte. Jeden, nur Joe nicht. Dazu war sie viel zu sehr in Rage.
»Wo warst du denn heute Nacht?«
»Das geht dich gar nichts an.«
»Wenn du nichts zu verbergen hast, kannst du es mir ja erzählen.«
»Ich glaube, bei dir ist 'ne Sicherung durchgebrannt.«
»Spinnst du?«
»Joe, hör endlich auf! Und obwohl dein Leben mich auch nichts angeht, gebe ich dir trotzdem einen Rat: Lösch diese verdammte Webpage. Die bringt nur Unheil. Niemand braucht so was. Du solltest besser mal auf dein Gefühl hören und den Verstand einschalten. Hättest du dich nicht so blind in diese Konstantin-Geschichte verrannt, wäre dir diese Bauchlandung auch erspart geblieben.« Nach diesen Sätzen packte Marc sein Werkzeug zusammen und stieg vom Gerüst.
»Wohin gehst du?« Joe fühlte sich mit einem Mal hilflos und allein.
»Fragst du das als Chefin oder als Freundin?«
Joe schwieg. Ihr war klar, dass er keine Antwort erwartete. Enttäuscht sah sie ihm nach, wie er mit langen Schritten durch den Raum ging und im Treppenhaus verschwand. Konnte sich denn niemand mit ihr freuen? Joe schob die Ablehnung ihrer Freunde darauf, dass es offensichtlich Dinge gab, die Männer nicht nachvollziehen konnten. Und da spielte es auch keine Rolle, ob sie schwul waren oder nicht.
Während des ganzen Tages ging Marc ihr absichtlich aus dem Weg. Joe machte das wahnsinnig. Sie mochte dieses Gefühl, dass etwas unausgesprochen zwischen ihnen stand, überhaupt nicht. Schließlich waren sie immer noch Freunde. Zu gern hätte sie ihm ihren Standpunkt nochmals dargelegt. Besser noch, Marc hätte eine dieser Mails gelesen.
Joe dachte an die erschütternden Zeilen einer Frau, die durch Zufall die pornografische Bildergalerie ihrer unzähligen Nebenbuhlerinnen im Computer des Ehemannes entdeckt hatte, die er während ihrer zehnjährigen Ehe dort archiviert hatte. Wenn Marc davon erfuhr, würde er anders denken. Aber er gab Joe keine Chance dazu. Er fand stets einen neuen Grund, der Konfrontation auszuweichen, und bestand während der Frühstückspause darauf, weiterzuschuften, um seine morgendliche Verspätung wieder wettzumachen. Selbst als Joe ihn in ihrer Funktion als Chefin ausdrücklich in die Pause schickte, stieg er einfach nur zurück auf sein Gerüst.
Marc kann so verdammt stur sein!, dachte Joe, gab auf und ging mit Huber, Kulzer und Hoffmann in den Bauwagen. Lustlos kaute sie dort ihre Wurstsemmel und ärgerte sich, dass Marc es tatsächlich geschafft hatte, ihre gute Laune an diesem so besonderen Tag zu trüben.
Auch in der Mittagspause verschwand er, um Material zu holen. Dabei wäre das Kulzers Aufgabe gewesen. Aber so war Joe auch schon darauf
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