Der transparente Mann (German Edition)
Bei dem bloßen Gedanken an ihre erotischen Spiele wurde es Joe ganz heiß. Röte schoss ihr ins Gesicht, und sie hatte das Gefühl, jeder der Passanten könnte daraus schließen, dass sie auch eine der Frauen war, denen Konstantin dieses Graffito zu verdanken hatte.
Joe fühlte sich schrecklich. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht, als zwei Männer mittleren Alters direkt neben ihr stehen blieben. Zum Glück nahmen sie Joe aber gar nicht wahr. Sie waren viel zu abgelenkt und starrten fasziniert auf die verunstaltete Fensterscheibe der Galerie.
»So was sprüht dir keiner auf die Scheibe«, meinte der Größere und gab seinem etwas kleineren Freund einen kameradschaftlichen Stups.
»Dir aber auch nicht«, schoss dieser sofort zurück.
Joe unterdrückte ein spontanes Lachen.
»Schade eigentlich«, murmelte der Kleinere bedauernd.
»Na hör mal! Auf den Ärger könnte ich verzichten!«
»War bestimmt das Werk von so einem frustrierten Huhn.« Damit gingen sie weiter.
Joe schaute den beiden nach, bis sie bemerkte, dass es in der Galerie plötzlich sehr lebendig wurde. Ihr Herz schlug einen Salto. Gefolgt von einem Polizisten, war Konstantin aus dem hinteren Büro in den Verkaufsraum getreten. Selbst von der anderen Straßenseite aus glaubte Joe, die hektischen Flecken auf seinen Wangen zu erkennen, die er nur dann bekam, wenn er in Bedrängnis geriet. Und er befand sich offensichtlich mittendrin. Wild gestikulierend fuchtelte er mit der einen Hand in der Luft herum, während er in der anderen Hand einen Wassereimer trug. Dann griff er nach der Leiter, die er sich bereitgestellt hatte, und trug sie nach draußen.
Joe wich automatisch einen Schritt zurück und verbarg sich hinter einem Mauervorsprung.
Vorsichtig stellte Konstantin die Leiter vor das Fenster, stieg mit dem Eimer hinauf und schickte sich an, die Buchstaben zu entfernen. Nicht ohne Genugtuung beobachtete Joe seine verzweifelten Bemühungen, einen Buchstaben nach dem anderen abzuwischen, während die Passanten sich zu hämischen Kommentaren bemüßigt fühlten.
Über Joes Gesicht huschte ein Lächeln.
Aber dann musste sie sich plötzlich abwenden. Auf einmal glaubte sie, Konstantins Hilflosigkeit dem öffentlichen Spott gegenüber zu spüren, als er den spitzen Bemerkungen einer älteren Dame auswich, die sehr distinguiert aussah und einen kleinen Hund an der Leine spazieren führte. Joes Schadenfreude schwand mehr und mehr, doch Mitleid war gefährlich, erinnerte sie sich. Mitleid verzerrte die Realität und ließ einen gleich alles verzeihen. Mitleid war die größte Gefahr für die Gerechtigkeit. Deshalb ging Joe schnellen Schrittes zurück zu ihrem Auto.
Ziellos fuhr sie durch die Stadt, die sich langsam anschickte, ihr Gesicht zu wechseln. Geschäfte dimmten das Licht auf Notbeleuchtung, Sicherheitsgitter an Ladentüren glitten scheppernd nach unten. Was sich bis jetzt so einladend und verführerisch präsentiert hatte, war nun hermetisch abgeriegelt, unerreichbar für all jene, die in die Nacht ausschwärmten und für die nächsten Stunden Restaurants, Bars und Kneipen bevölkerten. Menschen hasteten durch die Straßen. Alle schienen ein Ziel zu haben. Alle, bis auf Joe. Sie kam sich vor, als wäre sie die Einzige, die nicht wusste, wohin. Deshalb rief sie Alf an, um zu hören, ob er vielleicht heute Abend daheim war und Zeit für sie hatte.
Als er dann den Hörer abnahm, erzählte sie für ihre Verhältnisse fast emotionslos, was sich gerade vor Konstantins Galerie abgespielt hatte.
Alf nahm ihr die neue Sachlichkeit ab. Er schien sich zu freuen, dass sie endlich vernünftig geworden war und sich nicht mehr in alles so hineinsteigerte, was mit Konstantin zu tun hatte. So beendete er das Thema mit dem besorgten Wunsch: »Du kannst nur hoffen, dass er niemals erfährt, dass du hinter der ganzen Sache steckst.«
Seiner Stimme hörte Joe an, dass er in Eile war. Thomas hatte einen Tisch beim Thailänder reserviert, wie Alf ihr nun erzählte. Er musste sich gar nicht genauer ausdrücken – Joe wusste auch so, dass dieser Tisch nur für zwei Personen reserviert war.
»Ich wünsche dir einen besonders schönen Abend«, sagte Joe und meinte es ehrlich.
Trotzdem hatte das Gespräch sie noch mehr ernüchtert. Denn obwohl sie Alf die neue Liebe gönnte, fand sie es dennoch schade, dass die Zeiten sich geändert hatten. Sie musste sich erst daran gewöhnen, Alf nicht mehr ausschließlich für sich beanspruchen zu können. Joe fand die
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