Der transparente Mann (German Edition)
an der Fassade des gesichtslosen Mehrfamilienhauses hinauf, doch es blieb still.
Joe war verwirrt. Langsam dämmerte ihr, woran sie bislang keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte. Vielleicht wollte Marc ja nicht öffnen, weil er nämlich gar nicht allein in seiner Wohnung war. Die zweite Möglichkeit wäre, dass er schlicht und einfach die Nacht woanders und damit höchstwahrscheinlich mit einer Frau im Bett verbracht hatte. Schlagartig wurde Joe bewusst, wie wenig sie doch über Marc und sein Liebesleben wusste. Diese Erkenntnis kränkte sie. Sie empfand es als unfair, dass sie ihm bereitwillig ihr ganzes Liebesdrama mit Konstantin anvertraut hatte, während er so verschwiegen war. Warum hatte er ihr nichts von einer Freundin erzählt? Offensichtlich hatte er ja eine! Augenscheinlich war Marc gar nicht so einsam, wie Joe bislang angenommen hatte. Verheimlichte er ihr etwa bewusst etwas?
Nun ja, eigentlich ging sie das alles gar nichts an. Es war einzig und allein Marcs Angelegenheit, wo und mit wem er sich nachts vergnügte, sagte sich Joe. Trotzdem war ein kleiner Schatten auf ihre vorher so genial gute Laune gefallen. Mit der Tüte Nussschnecken in der Hand kam Joe sich jetzt nur noch deplatziert vor und ärgerte sich über ihre spontane Idee. Sie hoffte schwer, dass Marc nicht gerade oben in seiner Wohnung irgendeiner Frau erklären musste, warum seine Chefin mit einer Frühstückstüte vor seiner Tür stand und Sturm klingelte. Bei dem bloßen Gedanken daran wäre sie am liebsten im Erdboden versunken.
Schleunigst machte Joe sich davon. Denn falls er wirklich nicht da war, wollte sie ihm auch keinesfalls noch über den Weg laufen, wenn er vielleicht in wenigen Minuten von seiner Liebesnacht zum Duschen nach Hause kommen würde. Irritiert über diesen unerwarteten Einblick in Marcs Intimleben, setzte Joe sich in ihr Auto und fuhr zurück zu ihrer Baustelle.
Die Sonne war gerade aufgegangen und hüllte das Gebäude in ein gelbes Licht. Noch herrschte eine ungewohnte Ruhe, und das Gerüst, dass in einer halben Stunde wieder von Handwerkern bevölkert werden würde, gehörte noch den Tauben und Spatzen, die sich laut gurrend und zwitschernd den neuesten Morgentratsch zu erzählen schienen.
Joe ging in den Bauwagen, setzte die Kaffeemaschine in Gang, und dann vergaß sie auch Marc, da sie nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wurde: Sie musste unbedingt die Zeitung von gestern mit dem Artikel von Monika Treschniewski finden, die sie auf der Vernissage noch so unausstehlich gefunden hatte, der sie jetzt aber das Bekanntwerden ihrer Webpage zu verdanken hatte. Irgendwo musste die Zeitung doch rumliegen. Joe fand sie im Abfall – zerknüllt zwischen Butterbrotpapier und Resten von Leberkäse. Mit spitzen Fingern fischte Joe sie aus dem Müll und war zum ersten Mal froh, dass Ordnung und Reinlichkeit nicht zu den herausragenden Attributen ihrer Handwerker zählten. Hektisch glättete sie die Seiten, setzte sich mit einem Becher Kaffee an den Tisch und begann mit wachsendem Stolz zu lesen, auch wenn ausgerechnet ein Fettfleck den Artikel zierte, den Joe sich am liebsten eingerahmt übers Bett gehängt hätte. Denn Monika Treschniewski hatte eine wahre Lobeshymne auf den unbekannten Verfasser der Webpage und seine geniale Idee verfasst. » www.der-transparente-mann.de ist ein Segen für Frauen«, schrieb die Journalistin zum Schluss und empfahl nicht nur dringend einen Männercheck vor dem ersten Date, sondern forderte Frauen sogar auf, ihre Erfahrungen mit Männern an diese Webadresse zu schicken.
Joe bewunderte Monikas Mut. Was für eine öffentliche Solidaritätserklärung! Was für ein hammerharter Schlag gegen Konstantin! Joes Sympathie für Monika kannte keine Grenzen mehr. Am liebsten hätte sie postwendend in der Redaktion angerufen, um sich persönlich bei dem pummeligen Lockenkopf zu bedanken und als Verfasserin der Webpage zu erkennen zu geben. Sich hinter einem Pseudonym zu verstecken, empfand Joe nun als kleinen feigen Akt. Sie nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr auf Alfs Ratschläge zu hören. Am liebsten hätte sie die Wahrheit jetzt in die Welt hinausgeschrien: »Ja, ich, Joe Benk, ich habe diese Webpage kreiert! Ich erspare Frauen in Zukunft ganz viel Liebeskummer!« Ein Glücksgefühl, so groß wie ein Dinosaurier, übermannte Joe. Und als Hoffmann, Huber und Kulzer pünktlich zum Arbeitsbeginn eintrafen, hatte Joe bereits die düstere Etage im Tiefparterre mit drei großen Scheinwerfern
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