Der transparente Mann (German Edition)
vorbereitet, dass Marc nach seiner Rückkehr nicht wieder mit ihr im Tiefparterre, sondern im ersten Stock isolieren wollte.
Erzähl mir nichts. Das ist doch pure Absicht!, hätte Joe ihm am liebsten an den Kopf geworfen. Aber sie schluckte die Worte herunter und fragte sich, warum Marc sich von ihrer Webpage offensichtlich persönlich betroffen fühlte. Hatte er vielleicht Angst, er könnte ebenfalls geoutet werden?
Zum ersten Mal, seit sie Marc kannte, zweifelte sie an ihm und hatte von seiner (ihr bisher unbekannten) zickigen Art die Nase voll. Noch mal würde sie nicht auf ihn zugehen. Jetzt musste er zu ihr kommen. Joe hatte lange genug um ein nettes Wort von ihm gebuhlt.
Sie kletterte auf das Gerüst, und während sie mechanisch Rohr für Rohr umwickelte, hing sie ihren Gedanken nach. Die wanderten nun wieder zu Konstantin. Vielleicht war ihm das öffentliche Outing ja eine Lehre, hoffte sie in einer geheimen Ecke ihres Herzens. Vielleicht war ihm das Fremdgehen nun ein für alle Mal verleidet?
Joe hätte zu gern Mäuschen gespielt. Sie malte sich aus, wie viele Frauen ihm jetzt gerade daheim, in seiner Galerie oder am Telefon die Leviten lasen. Das war Dope für ihr Selbstbewusstsein, und plötzlich fühlte sie sich ihm gegenüber nicht mehr unterlegen, denn von der lieben, süßen Klempnerin hatte sie sich zu einer Frau gemausert, vor der er jetzt sicher Respekt hatte.
Oder amüsierte er sich etwa über sie?
Joe fand diese Möglichkeit zwar höchst abwegig, aber wer wusste schon, was im Kopf dieses Mannes vor sich ging? Er war einfach so anders als die Männer vom Bau, mit denen sie täglich zu tun hatte. Joe dachte an all die interessanten Gespräche mit ihm über eine Welt, die ihr bis dahin verschlossen gewesen war. Sie dachte an die Tage mit ihm. Und an die Nächte.
Joe seufzte.
Angestrengt versuchte sie, sich nicht mehr mit Konstantin, sondern nur noch mit dem Erfolg ihrer Webpage zu beschäftigen und sich so wieder fröhlich zu stimmen. Aber einen Gedanken konnte sie nicht abschütteln: Falls ihre Webpage doch der Wendepunkt in Konstantins Leben war, würde in Zukunft nicht sie, Joe Benk, sondern eine andere Frau von all den wunderbaren Qualitäten eines geläuterten Mannes profitieren.
Ärger stieg in Joe hoch. Aber am meisten ärgerte sie sich über sich selbst. Solche Typen ändern sich nie!, sagte sie sich immer wieder. Das wenigstens sollte ihr endlich klar geworden sein. Warum aber konnte sie dennoch nicht aufhören, an Konstantin zu denken?
Die Baskenmütze tief in die Stirn gezogen und mit hochgestelltem Kragen, ging Joe am Ende dieses Arbeitstages gemächlich an den Auslagen der kleinen, feinen Geschäfte vorbei. Heute schenkte sie ihnen allerdings keine Beachtung, stattdessen spürte sie ihr Herz im Hals pochen. Ihre Handflächen, die sie in den Taschen der Jacke vergraben hatte, waren feucht. Im Schutz der Dämmerung hoffte sie, von niemandem erkannt zu werden.
Gleich hinter der nächsten Ecke befand sich Konstantins Galerie. Vorausgesetzt, er war nicht auf Reisen, saß er um diese Zeit meist hinten im Büro, um, wie er sich ausdrückte, noch »irgendwelchen nervenden Schreibkram zu erledigen«. Von wegen! Wahrscheinlich bereitete er sich dort mental auf den Ablauf der kommenden Nacht vor und meditierte über diejenige, die er beglücken würde. Vielleicht besaß er ja sogar ein Buch, in dem er alle Qualitäten, Wünsche und Vorlieben seiner vielen Frauen notierte, damit er sie nicht durcheinander warf.
Dieses geistige Vorspiel konnte er sich jetzt und in Zukunft sparen.
Im Weitergehen schickte Joe ihm ganz gezielt wütende Gedankenblitze. Sie wollte Konstantin bei dieser konspirativen Aktion nicht begegnen und erhoffte sich auch nichts davon. In Wahrheit wusste sie überhaupt nicht, was sie hier eigentlich suchte. Da war nur dieses Gefühl, feststellen zu müssen, ob sich von gestern auf heute doch etwas verändert hatte. Irgendeine Kleinigkeit vielleicht. Joe atmete noch einmal tief durch, bevor sie in seine Straße bog. Überrascht blieb sie dann auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stehen und starrte auf die Galerie.
Die Kleinigkeit war riesengroß.
VIELFICKER stand in meterhohen Lettern auf der großen Scheibe der Galerie.
Wie versteinert stand Joe einfach so da und starrte auf die leuchtend weiße Schrift. Bildsequenzen schwirrten durch ihren Kopf. Sie sah sich wieder mit Konstantin in diesem Raum, den sie so oft für noch schönere Künste zweckentfremdet hatten.
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