Der transparente Mann (German Edition)
ausgeleuchtet, stand, fröhlich vor sich hinsummend, auf dem Baugerüst und hatte schon zehn Meter Rohrleitungen isoliert. Sie platzte schier vor Energie, die sie nur so kanalisieren konnte.
»Guten Morgen«. Mit Verspätung stieß auch Marc zum Arbeitstrupp und richtete eilig sein Werkzeug her.
Joe quittierte seinen Gruß mit einem genuschelten »Morgen«. Bewusst gab sie sich den Anschein, ganz versunken in das Anpassen der Isolierung zu sein. In Wahrheit aber arbeitete sie keinesfalls so konzentriert, sondern beobachtete Marc aus den Augenwinkeln. Sie platzte fast vor Neugier. Nach zu wenig Schlaf sah er eigentlich nicht aus. Im Gegenteil. Seltsam erfrischt wirkte er. Na ja, Männer erholen sich nach einer erotischen Nacht meist schneller als Frauen, befand Joe, obwohl sie diesbezüglich über nicht besonders große Erfahrung verfügte. Der Orgasmus-K.-o. ließ einen Mann in ein regenerierendes Kurz-Koma fallen, aus dem er dann wie Phönix aus der Asche erwachte. Zwangsläufig musste Joe an ihre letzte Liebesnacht mit Konstantin denken. Und sofort ärgerte sie sich über ihre Schwäche.
Ihr knapp ausgefallener Morgengruß schien Marc nicht weiter zu beschäftigen. In aller Ruhe schob er mehrere Ballen Isolierwolle heran und richtete wie immer seinen Arbeitsbereich unweit von Joes ein. Je länger sie ihn beobachtete, desto mehr verfestigte sich ihr Eindruck. Die vergangene Nacht konnte nicht so berauschend für ihn gewesen sein. Denn so glücklich wirkte Marc wiederum nicht. Ganz schnell blickte Joe zur Seite, denn er hatte ihren prüfenden Blick bemerkt.
»Heute gab's einen echt genialen Sonnenaufgang.« Marc schenkte ihr ein unbekümmertes Lächeln.
Joe zuckte mit den Schultern. Sie schwieg und arbeitete weiter. Dass er ihr sein Privatleben so konsequent vorenthielt, schien ihm kein schlechtes Gewissen zu bereiten. Aber es kränkte Joe, und sie fragte sich nach dem Grund. Was hatte er zu verbergen? Schließlich waren sie Freunde. Joe empfand sein Verhalten als Zeichen mangelnden Vertrauens. Deshalb entschied sie, ihm weder etwas von ihrem spontanen Frühstücksbesuch noch von dem besonderen Grund dafür zu erzählen. Stattdessen schwor sie sich, in Zukunft ihre Zunge im Zaum zu halten. Sollte er doch von anderen erfahren, dass sie mit ihrer Webpage einen Riesenhit gelandet hatte. Vielleicht würde er dann mal darüber nachdenken, dass Offenheit in einer Freundschaft eine beidseitige Angelegenheit war.
Ein paar Minuten arbeiteten sie schweigend nebeneinander, bis Marc die Stille brach. »Warst du das Heinzelmännchen, das hier alles isoliert hat?« Fragend blickte er Joe an, obwohl er die Antwort ganz bestimmt ahnte.
Joe spielte die Gleichgültige.
»Na komm, sag schon!?«
»Mmhm. Konnte nicht schlafen.« Joe biss sich auf die Zunge, die sich wie auf Kommando selbstständig machen wollte, um ihm das zu erzählen, was ihr auf der Seele brannte.
»Und was hast du jetzt weiter damit vor?« Mit einem breiten Grinsen schaute Marc auf ihre Isolierarbeit.
»Wieso?« Joe verstand nicht, worauf er hinauswollte.
Erst als sie seinem Blick folgte, erkannte sie ihren Irrtum. Wie konnte ihr nur so ein peinlicher Anfängerfehler unterlaufen! Sie hatte die Isolierwolle völlig falsch gewickelt. Anstatt außen lag die silberne Folie, die sich auf einer Seite der gelben Wolle befand, nun direkt innen am Rohr an.
Joe wurde rot. Sie war Marc dankbar, dass er sich weitere Bemerkungen verkniff. Schleunigst schickte sie sich an, dieses Missgeschick zu beheben, bevor auch noch alle anderen es sehen würden. Sie konnte sich das breite Grinsen der Monteure bestens vorstellen; sicher hätten sie noch jahrelang über ihre Chefin gelacht.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du hier rumwerkelst, hätte ich dir geholfen. Ich war auch schon ganz früh wach. Warum hast du nicht angerufen?«, fragte Marc, während er ihr ganz selbstverständlich dabei half, die Isolierung neu zu wickeln.
Joe sagte nichts dazu. Aber diese freundschaftliche Geste versöhnte sie.
»Und warum konntest du nicht schlafen?«, hakte Marc jetzt nach und sah Joe aufmerksam an.
»Weiß nicht. Einfach nur so.«
Für Marc war damit das Thema erledigt. Im Gegensatz zu Joe war er nicht der Typ, der lange nachbohrte.
Während Joe einen neuen Draht um die Glaswolle wickelte, sah sie.
verstohlen zu ihm hinüber. Sie betrachtete seinen muskulösen Rücken, der sich unter seinem Hemd dehnte, und dachte daran, wie stolz er auf sie wäre, würde er ihr Geheimnis kennen.
Weitere Kostenlose Bücher