Der transparente Mann (German Edition)
Arbeitsablauf dann neu planen musste, um die Trockenbauarbeiten am Montag nicht zu behindern. Aber sie wusste auch, wie heilig jedem Handwerker seine Pausen waren, und das ließ sie an ihrer spontanen Rettungsidee zweifeln. Was sollte sie unternehmen, wenn sie auf Ablehnung stieß?
Joe spürte, wie ihre Beklemmung wuchs. Sie holte tief Luft, straffte sich und stieg entschlossen die zwei Stufen zum Umkleidewagen hinauf. Da auf ihr Klopfen niemand reagierte, trat sie einfach ein. Als Erstes sah sie Hoffmanns nackten Hintern, und zwar in seiner ganzen Breite. Joe schluckte trocken, aber die Männer schienen sich an ihrer Anwesenheit keineswegs zu stören. Schließlich war sie hier nur die »Joe vom Bau«, die schmutzige Gummistiefel und eine Latzhose trug und ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und nicht die Johanna im duftigen Sommerkleid.
»Morgen, Chefin«, meinten sie nur gleichmütig und ließen sich beim Umziehen nicht stören. Joe hatte einige Mühe, ihre Nacktheit und die zum Teil sehr gewöhnungsbedürftigen Unterhosen zu ignorieren und den Männern stattdessen die Notsituation ganz selbstverständlich und sachlich zu erklären.
»Wir lassen Sie nicht hängen«, antwortete Huber schlicht, nachdem Joe geendet hatte, und Kulzer fügte hinzu:
»Ist doch Ehrensache.«
So viel Solidarität hatte Joe von ihren Männern nicht erwartet. Sie war gerührt. Das zeigte ihr, dass sie nicht nur geduldet, sondern ehrlich gemocht und akzeptiert wurde. Nur Marc schwieg, aber Joe las die Zustimmung in seinen Augen. Er war hier übrigens der einzige Mann, dessen Wäsche sich wirklich sehen lassen konnte.
Für Joe war der Streit von gestern längst vergessen. Sie nahm sich vor, Marc nach der Arbeit zum Essen einzuladen. Vielleicht zum Vietnamesen an der Ecke, wo es so leckere Frühlingsrollen und eine knusprige Ente mit süß-saurer Sauce gab. Marc ging gern, aber nicht sehr oft da hin, da das Essen dort viel teurer war als in ihrer Stammkneipe, dem »Satisfaction«.
»Aber das kostet Sie einen Kasten Bier«, unterbrach Hoffmann ihre Gedanken und zog sich endlich auch die Hose hoch.
»Zwei Kästen Bier und noch eine Brotzeit obendrauf«, versprach Joe mit einem Augenzwinkern und beeilte sich, diesen Ort zu verlassen. Dabei vernahm sie aber noch, wie die anderen Monteure Huber zurechtwiesen:
»Die nächsten Tage kannst du dann aber nicht um sechs abhauen, Huber«, mahnte Hoffmann.
»Oje! Kriegst dann wohl Ärger mit deiner Alten, was?«, feixte Kulzer.
»Wenn ihr nicht langsam voranmacht, kriegt ihr gleich mit mir Ärger!«
Das war typisch Huber, souverän wie immer! Joe schmunzelte und eilte auf den Rohbau zu. Trotzdem verstand sie die Neugier der Männer. Sie hatte sich auch schon gefragt, warum Huber stets so pünktlich die Baustelle verließ. Jetzt hoffte sie, dass er angesichts ihrer Notsituation ebenfalls länger bleiben würde. Auf Huber, ihren Obermonteur, konnte sie einfach nicht verzichten. Es beruhigte Joe, dass die Männer sich gegenseitig mitzogen und motivierten. Einer passte auf den anderen auf. Und sie waren gottlob alle auf Joes Seite.
Kaum fünf Minuten später hatten sich die Monteure in dem noch zugigen Eingangsbereich des Rohbaus um Joe versammelt, um neue Instruktionen entgegenzunehmen. Jetzt mussten sie ihre Arbeit im Tiefparterre einstellen und im obersten Stockwerk beginnen, von wo aus sie Etage für Etage die Unterputzleitungen isolieren mussten, sodass die Wände auch Etage für Etage von der Trockenbaufirma geschlossen werden konnten. Die Gerüste wurden aufgebaut, das Material nach oben geschafft. Die schnelle, konzentrierte Arbeit auf dem Gerüst ließ Joe keine Zeit zum Nachdenken. So war es seit langem der erste Tag, an dem sie weder an Konstantin noch an ihre Webpage dachte, denn die Leitungen mussten auch noch auf ihre Dichtheit überprüft werden.
Verschlafen und mit zerknittertem Hemd erschien dann kurz nach fünf Franz Wagenscheidt wieder auf der Baustelle. Auch ihm erschien es wie ein kleines Wunder, dass Joe und ihre Männer die oberste Etage nur an einem einzigen Tag schon zur Hälfte fertig isoliert hatten. Noch ein weiterer Arbeitstag, und die Trockenbaufirma würde hier oben tatsächlich damit beginnen können, die Wände zu verkleiden. Wagenscheidt war dermaßen erleichtert, dass er den Monteuren einen weiteren Kasten Bier versprach.
»Denn schließlich ist es euer Verdienst, wenn wir das Problem doch noch in den Griff bekommen«, sagte er vergnügt,
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