Der transparente Mann (German Edition)
sie im Augenblick meilenweit entfernt. Ihre Beine erschienen ihr bleischwer, und sie spürte eine große Müdigkeit.
»Na, hast du …?«, begann sie, während sie die Tür öffnete. Der Rest des Satzes blieb ihr jedoch im Hals stecken. Denn vor ihr stand nicht Alf, sondern ihr Hausmeister, und er war in einem völlig desolaten Zustand.
»Bitte, Frau Benk. Darf ich? Bitte. Ich muss einfach mit Ihnen sprechen.«
Perplex trat Joe zur Seite, sodass er ungehindert eintreten konnte.
Der Mann steuerte auf das Sofa zu, ließ sich sofort nieder und sackte in sich zusammen. Wenigstens machte er nicht den Eindruck, als wollte er sie erstechen oder erwürgen. Er wusste gottlob doch nicht, dass Joe der Urheber seines Schlamassels war. Zum ersten Mal an diesem Tag war sie froh, auf Alf gehört zu haben.
»Warten Sie. Ich bringe Ihnen ein Bier«, sagte Joe aus einem spontanen Gefühl des Mitleids heraus, holte aus der Küche zwei Flaschen und reichte ihm eine davon, die sie bereits geöffnet hatte. Aber er trank nicht, sondern schien sich nur daran festhalten zu wollen.
Joe setzte sich ihm gegenüber und wartete. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit lief ihr wohltuend die Kehle hinunter, bis Hausmeister Wimmer erneut ein gequälter Seufzer entfuhr.
»Sie will mich nicht mehr sehen … meine Frau.«
Seltsam, wie schnell sich Dinge verändern!, ging es Joe durch den Kopf. Er erinnerte sie plötzlich an den aufblasbaren Weihnachtsmann, den Alf prall gefüllt zu Weihnachten im Raum schweben ließ und dem bis zu Dreikönige so dermaßen die Luft ausgegangen war, dass er nur noch ein armseliges, ausgedörrtes Männlein war. Joe ersparte sich einen Kommentar zu Wimmers Offenbarung. Denn sie hatte in erster Linie Mitgefühl mit seiner Frau.
»Sie hat davon erfahren. Sie wissen schon. Sie hatten mich ja am Flughafen getroffen. Mit meiner … mit meiner Begleitung damals«, stotterte er und sah Joe flehentlich an. »Dabei ist mir diese Geschichte überhaupt nicht wichtig gewesen. Ich weiß auch nicht, warum ich das gemacht habe. Ich liebe doch meine Frau.«
Ja, ja, mal wieder die alte Leier! Angeblich liebte er seine Frau, vögelte aber in der Weltgeschichte herum, als wären Männer keine ganzheitlichen Geschöpfe aus Körper, Geist und Seele, sondern würden in erster Linie von ihrem Unterleib regiert. Wie praktisch, dass »Mann« diesem dann auch die Schuld an jedem Seitensprung geben konnte! Nein, Joe hatte absolut kein Mitleid mehr mit dem Zerknirschten. Unweigerlich wanderten ihre Gedanken zu Konstantin. Saß er in diesem Moment ebenso reumütig auf seinem weißen Sofa wie Herr Wimmer nun auf ihrem? Diese Assoziation verschaffte Joe ein gutes Gefühl. Ein verdammt gutes sogar.
»Was kann ich bloß tun? Ich würde alles, wirklich alles anstellen, um es wiedergutzumachen.«
War da nicht ein Ton von ehrlicher Reue? Joe horchte auf. Vielleicht würde Wimmer sich ja in Zukunft hüten, seine Frau noch einmal zu betrügen. Schließlich musste er damit rechnen, wieder auf der Webpage www.der-transparente-mann.de geoutet zu werden. Wäre ja keine schlechte Therapie, dachte Joe, und da kam auch wieder ihr Stolz zurück, der schließlich die Oberhand gewann und die Zweifel wegwischte, die sie vor wenigen Minuten noch empfunden hatte und die sie hatten ernsthaft daran denken lassen, die Webpage zu löschen.
»Haben Sie denn Schluss gemacht?«, fragte Joe. Ihr wurde bewusst, dass sie zu den selbstmitleidigen Ausführungen des Hausmeisters bislang noch nicht Stellung bezogen hatte, er sie aber weiterhin auffordernd ansah.
»Wieso ich? Meine Frau will doch nicht mehr.«
»Ich meine ja, mit der anderen.«
Wimmers Blick verriet Erstaunen. Daran hatte er bislang offensichtlich nicht gedacht. »Nein«, murmelte er kaum hörbar.
»Das ist aber das Allererste, was Sie tun müssen. Am besten rufen Sie die andere sofort und im Beisein Ihrer Frau an. Dann glaubt sie Ihnen vielleicht wieder. Ich bin sicher, unter diesen Umständen wird sie Ihnen die Tür öffnen.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Versuchen Sie es doch einfach!«
Inzwischen war es zwei Uhr nachts. Joe war todmüde. Sie schenkte ihm noch ein aufmunterndes Lächeln, ging dann zur Wohnungstür und öffnete sie, was für Hausmeister Wimmer ein unübersehbares Zeichen war, dass es Zeit für seinen Gang nach Canossa war. Als er ihre Wohnung verließ, sah er aus, als stünde er kurz vor seiner Hinrichtung.
Joe wartete noch einen Moment in der
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