Der transparente Mann (German Edition)
und Joe roch seinen Atem, der von vielen genossenen Drinks erzählte.
Sie hasste die Trinkerei auf dem Bau, aber sie verstand auch, dass es Tage gab, die einfach eine Ausnahme bildeten. Und heute war für Wagenscheidt halt so ein Tag. Sie bedankte sich, als er ihr und ihrem Vater eine Einladung in ein bayerisches Restaurant versprach.
»Dabei handelt es sich um ein besonders gutes Restaurant«, erklärte er mit großer, jovialer Geste.
Joe kannte den Laden. Es war ein so genannter »Edelbayer«. Die Einrichtung war ein Zwischending aus einer Schweizer Zirbel-Stube und einem bayerischen Wirtshaus. Für ihre Begriffe ein wenig verkitscht und ein wenig zu teuer. Doch sie war überzeugt, dass ihr Vater stolz auf sie sein würde, wenn er zu hören bekam, wie perfekt sie dieses Problem aus der Welt geschafft hatte. Auf jeden Fall aber gefielen ihm ausgedehnte Abendessen in solchen Restaurants sehr, vorausgesetzt natürlich, er musste sie nicht bezahlen.
Gegen einundzwanzig Uhr packte auch Joe endlich ihr Werkzeug zusammen. Ihr schmerzte der Rücken, ihre Arme spürte sie fast nicht mehr, und in ihrem Arbeitseifer hatte sie gar nicht bemerkt, wie die anderen Monteure einer nach dem anderen den Rohbau verlassen hatten. Auch Marc war bereits gegangen. Ihr fiel auf, dass er sich nicht wie üblich von ihr verabschiedet hatte, aber das war ihr in diesem Moment egal. Ihre Gedanken kreisten nur um ihre Badewanne und das Coq au Vin, das Alf für sie in den Kühlschrank gestellt hatte, wie er ihr bei einem fürsorglichen Anruf berichtet hatte.
Während Joe ihr Werkzeug wegschloss, dachte sie an Huber und war ein wenig enttäuscht über sein Verhalten. Zwar hatte er auch auf Pausen verzichtet und tapfer durchgearbeitet, aber trotz entsprechender Kommentare seiner Kollegen war er dennoch um Punkt sechs gegangen. Er musste wirklich Angst vor seiner Frau haben.
Joe schüttelte in Gedanken an die stets in modische Fummel gehüllte Frau Huber den Kopf, die sich inzwischen auf Teenagergröße heruntergehungert hatte. Tja, wer so einen Drachen zu Hause hatte, brauchte für den Spott nicht zu sorgen! Joe mochte Huber wirklich, und sie fand, dass er eine nettere Frau verdient hätte.
Es war bereits finster, als sie über das verlassene Baustellengelände ging, aber sie brauchte kein Licht, denn die Baustelle war ihr so vertraut wie die eigenen vier Wände. Nur manchmal – und heute war leider so ein Abend – dachte sie daran, wie schutzlos sie wäre, falls jemand sie beobachten oder gar überfallen würde, während sie durch die Dunkelheit zu ihrem Auto lief. Joe umklammerte ihren dicken Schlüsselbund, den sie in der Hand hielt, dachte an Konstantin und spürte, wie Unwohlsein von ihr Besitz ergriff. Deshalb schickte sie all ihre Gedanken ganz schnell wieder zu Alf. Wie lieb, dass er immer an sie dachte! Schade war nur, dass sie das Huhn auch heute wieder allein essen musste. Alf und Thomas hatten schon zu Abend gegessen und saßen jetzt sicher Händchen haltend im Kino. Sie wollten sich einen Film mit Cameron Diaz ansehen.
Joes Herzschlag normalisierte sich langsam wieder, als sie ihr Auto erreicht hatte. Sie schloss die Tür auf, setzte sich hinein, verriegelte aber von innen, bevor sie losfuhr. Als sie die Straße passierte, in der die Wohnung ihrer Eltern lag, gab sie ihrer spontanen Eingebung nach und entschloss sich zu einem kurzen Besuch, denn ein Lob von ihrem Vater wäre für sie die Krönung des Tages gewesen.
Er war höchst erstaunt über den abendlichen Besuch seiner Tochter. Er saß in seiner alten beigefarbenen Cordhose und mit Filzpantoffeln vor dem Fernseher und ließ sich auch dann nicht stören, als Joe ihm voller Stolz von den Ereignissen des Tages, von Franz Wagenscheidt, der Trockenbaufirma, ihrer genialen Idee und dem Teamgeist ihrer Monteure berichtete. Nur hin und wieder löste er seinen Blick vom Bildschirm, um sie zweifelnd anzublicken.
Joe interpretierte das auf ihre Art. Sie vermutete, dass er offensichtlich beeindruckt war, und schloss ihren Tagesbericht strahlend und mit der Ankündigung, dass Wagenscheidt sie deshalb beide zum Essen eingeladen hatte. Dann sah sie ihren Vater erwartungsvoll an.
Doch kein anerkennendes Lächeln erhellte seine Augen, mit keinem Wort lobte er ihre Leistung oder wenigstens die ihrer Monteure. Joe bemerkte die dicken Furchen, die sich langsam und drohend in seine Stirn gruben, während seine Augen sie ärgerlich anfunkelten. Dann polterte er los: »Wieso informierst du
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