Der transparente Mann (German Edition)
Marc zu sprechen.
Wenn sie erst alle zusammen in entspannter Atmosphäre am Tisch saßen, konnte er ihr nicht mehr aus dem Weg gehen.
Als Joe das Büro betrat, stand ihre Mutter sofort vom Schreibtisch auf und kam ihr freudig entgegen. Die herzliche Umarmung, die für die sonst eher körperlich distanzierte Hilda höchst ungewöhnlich war, überraschte Joe. Für einen Moment nahm Joe ihren Duft, eine Mischung aus Maiglöckchen-Parfum und Haarspray, ganz intensiv wahr. Er war ihr sofort wieder vertraut, obwohl es eine Ewigkeit her war, dass ihre Mutter sie zuletzt umarmt hatte. Danach schien Hilda regelrecht zum Kühlschrank zu fliegen, aus dem sie eine Flasche Sekt nahm, den sie zur Feier des Tages kalt gestellt hatte. Aufmerksam beobachtete Joe ihre Mutter, um weitere Hinweise auf ihren seelischen Zustand zu entdecken. Wie so oft verblüffte es sie, dass man ihrer Mutter, die bereits Mitte fünfzig war, das Alter nicht ansah. Ihr Gesicht war klar, ihre Haut erstaunlich faltenfrei, was sicher auch daran lag, dass sie von jeher Sonnenstrahlen gemieden hatte.
Mit einer grazilen Bewegung fuhr Hilda sich durch die glatten Haare, nachdem sie die Sektgläser gefüllt hatte. Dann setzte sie sich auf den schwarzen Ledersessel neben Joe, schlug die schlanken Beine übereinander und erhob ihr Glas. »Auf deinen Erfolg, Joe. Herzlichen Glückwunsch, du hast es geschafft.«
Ihre Gläser klirrten hell, als sie miteinander anstießen, denn es war feinstes Kristall aus dem Erbe ihrer Oma. Immer noch erfüllt vom Lob ihres Vaters, erzählte Joe jede Einzelheit, die er zu ihr gesagt hatte. Dabei wirkte sie stolz wie ein kleines Mädchen, das ein gutes Zeugnis mit nach Hause gebracht hatte.
»Und? Wie geht es dir?«, fragte Joe lächelnd, als sie mit ihrer Erfolgsmeldung geendet hatte. Sie hatte ihre Mutter lange nicht mehr so strahlend gesehen und schloss daraus, dass ihre Eltern wieder zueinander gefunden hatten.
»Ludwig wohnt jetzt im Hotel.«
Joe starrte sie ungläubig an. Sie wusste nicht, ob sie die Tatsache, dass Huber jetzt frei für ihre Mutter war, gut finden sollte oder nicht. Plötzlich störte sie das Strahlen in Hildas Augen. In Joes Kopf wirbelten Bilder aus vergangenen Tagen wie kleine Puzzleteilchen durcheinander. Sie sah sich als Sechsjährige bei ihrem Vater in der Werkstatt, wo sie statt mit Puppen mit Plastikrohren gespielt hatte; da waren Erinnerungen, wie ihre Eltern gestritten hatten, weil Werner seine Tochter wie einen Jungen behandelt hatte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Vater und Mutter lachend im Garten, aber auch schweigend am Mittagstisch sitzen.
Joe konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Liebe zwischen ihren Eltern schon vor Jahren erloschen war. Trotzdem hatte sie nie ernsthaft an der Beständigkeit ihrer Ehe gezweifelt. Allein der Gedanke an eine Scheidung war Joe verhasst. Damit wollte sie sich nicht auseinander setzen, schon gar nicht heute, als könnte sie dadurch verhindern, was in Wirklichkeit schon gar nicht mehr zu verhindern war. Vielleicht musste sie aber auch einfach nur den Dingen ihren Lauf lassen.
»Danke für den Sekt. Jetzt muss ich wieder arbeiten«, sagte Joe schnell, stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem Bauakten auf sie warteten. Wie üblich lag im Fach für den Posteingang ein hoher Stapel Briefe, die ihre Mutter geöffnet und jeweils einzeln mit dem Eingangsdatum versehen hatte. Sie wollte eben nach der Post greifen, da vernahm Joe die Stimme ihrer Mutter:
»Marc hat gekündigt.«
Joe reagierte zuerst nicht. Die Aussage war einfach zu absurd. Marc, gekündigt? Niemals! Das konnte nicht sein. Es musste sich um ein Missverständnis handeln.
»Heute war sein letzter Arbeitstag. Er hatte noch vier Wochen Resturlaub. Seine Werkzeugkiste hat er schon abgegeben.«
Joe meinte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Marc war fort? Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Alles um sie herum drehte sich. Verwirrt ließ sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl nieder, bemüht, die Fassung nicht zu verlieren und einen klaren Gedanken zu fassen.
»Du wusstest nichts davon?«
Schwach schüttelte Joe den Kopf. Fahrig faltete sie Marcs Brief, der ganz oben auf dem Poststapel gelegen hatte, auseinander, in der Hoffnung, eine Nachricht an sie zu finden. Aber in dem förmlichen Kündigungsschreiben, fristgerecht und ohne ein persönliches Wort, stand nichts, was Joe hätte deuten können. Sie wusste nur eines: Er hatte sich damit aus ihrem Leben verabschiedet. Als sie
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