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Der transparente Mann (German Edition)

Der transparente Mann (German Edition)

Titel: Der transparente Mann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sixt , Barbara Wilde
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neuen Pullover, der perfekt mit ihren grünen Augen harmonierte. Sogar die Wimpern hatte sie sich an diesem Morgen getuscht.
    Joe summte leise vor sich hin. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so zufrieden gefühlt hatte. Ihre Hochstimmung trübte sich ein wenig, als sich ihr Blick mit Marcs Blick kreuzte. Er musterte sie, und Joe wünschte sich, sie könnte seine Gedanken lesen. Sie lächelte ihn an, aber statt einer erhofften versöhnlichen Geste traf sie wieder nur diese kühle, traurige Distanz, die er nicht mehr aufgegeben hatte, seit sie ihn damals gebeten hatte, ihre gemeinsame Nacht einfach zu vergessen. Ihre Hoffnung, die alte Freundschaft würde sich wiederbeleben lassen, hatte sich auch in den letzten zwei Wochen nicht erfüllt.
    Joe atmete tief durch, wischte die bedrückenden Erinnerungen weg, denn für Betroffenheit blieb keine Zeit. Sie hatte ihren Vater entdeckt, der soeben mit seinem blank polierten alten Mercedes auf die Baustelle fuhr. Neben ihm saß Franz Wagenscheidt.
    Joe spürte die Anspannung, denn sie hatte lange auf diesen besonderen Tag gewartet, und den wollte sie sich von keinem Mann dieser Welt verderben lassen. Sie steuerte auf Wagenscheidtund ihren Vater zu und verbarg ihre Aufregung hinter einem geschäftigen Lächeln. Seit dem Tag, an dem Werner Benk die Affäre seiner Frau durch Joes Webpage entdeckt hatte, war er seiner Tochter geflissentlich aus dem Weg gegangen. Wann immer sie sich kurz im Büro getroffen hatten, hatte Joe es nicht mehr gewagt, private Fragen zu stellen.
    »Hallo, Joe«, begrüßte er sie knapp, während er ausstieg.
    Sie versuchte, in der Miene ihres Vaters zu lesen. Sie sah seine Falten, die das Leben in sein Gesicht gegraben hatte und die ihr heute noch tiefer erschienen als sonst. Wie immer war er perfekt rasiert, aber da lag etwas in seinen Augen, das Joe nicht deuten konnte. Überraschend winkte er Huber heran, als sie dann über die Baustelle liefen, denn er sollte sie auf ihrem Rundgang durch das Gebäude begleiten.
    Damit hatte Joe nicht gerechnet. Ihr stockte der Atem. Zwar war es üblich, dass auch der Obermonteur bei der Endabnahme anwesend war, aber Ludwig Huber war schließlich auch der Liebhaber ihrer Mutter gewesen – oder war es vielleicht immer noch.
    Nichts an der Art, wie sich die beiden Kontrahenten begrüßten, deutete auf einen Konflikt hin. Zu viert stiegen sie plaudernd die Treppen hoch. Joe musterte Huber und ihren Vater dabei verstohlen. Sie war überzeugt, dass keine Frau der Welt es fertig gebracht hätte, ihre Gefühle so meisterhaft unter Kontrolle zu halten wie diese beiden Männer. Vom Keller bis zum Dachgeschoss gingen sie jeden einzelnen Quadratmeter in dem Gebäude ab. Sie inspizierten Dachabläufe, Bäder, Toilettenanlagen, Küchen und die Außenanlagen, aber es gab rein gar nichts zu beanstanden und auch kein böses Wort.
    »Sieht alles gut aus. Ich denke, man kann dir in Zukunft weiterhin die Bauleitung übertragen. Gute Arbeit«, sagte Werner Benk zu seiner Tochter, nachdem sie den Rundgang beendet hatten und noch kurz draußen zusammenstanden, um sich zu verabschieden.
    Es war das erste Lob, das Joe jemals von ihm vernommen hatte. Am liebsten wäre sie ihm spontan um den Hak gefallen, aber sie wusste, dass er kein Freund von emotionalen Ausbrüchen war. Außerdem gehörten Rührseligkeiten und Sentimentalitäten nicht hierher. So nickte Joe nur geschäftsmäßig und antwortete: »Danke, Paps.«
    Danach wurden noch Schultern geklopft und Hände geschüttelt. Der Bauwagen hing zum Wegschleppen bereits an einem der Lieferwagen, die, mit Werkzeugkisten, Bautüren, Werkbänken und restlichem Material bepackt, zur Abfahrt bereitstanden. Wagenscheidt hatte der Firma Benk einen neuen Auftrag erteilt. Somit ging die Arbeit ihrer Monteure nahtlos vom einen Projekt ins nächste über, denn der gesamte Trupp zog noch heute zur neuen Baustelle um. Nur Joe hatte sich trotz der deutlichen Ankündigung ihres Vaters und dem Drängen Wagenscheidts noch nicht entschieden, wie es für sie beruflich weitergehen würde. Auf dem Bau? An der Uni? Das Lob ihres Vaters hatte sie viel zu sehr aufgewühlt, um jetzt ernsthaft eine Entscheidung treffen zu können. So setzte sie sich ins Auto und fuhr ins Büro, um die Nachkalkulation zu erledigen, bevor sie sich mit ihren Monteuren im »Satisfaction« zu einer kleinen abschließenden Feier treffen wollte. Und dabei, so hoffte Joe, würde sich endlich auch die Gelegenheit bieten, mit

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