Der Traum der Hebamme / Roman
Oder würde er in dieser Lage so handeln wie ich?
Raimund hob die Hände ein Stück und ließ sie wieder auf den Tisch sinken. »Ich weiß nicht, wie Gott darüber urteilt, wenn wir jemanden töten, den Er zum Herrscher auserkoren hat. Dass wir einem Fürsten den Gehorsam verweigern und gegen ihn die Hand erheben. Aber ich kann nicht glauben, dass es Sein Wille ist, wenn ein ganzes Land auf Befehl eines Wahnsinnigen zerstört wird.«
»Wie Gott darüber denkt, finden wir vielleicht schneller heraus, als uns lieb ist«, meinte Lukas sarkastisch. »Wirst du es Elisabeth sagen?«
Raimund schüttelte den Kopf. »Diese Last kann sie nicht auch noch tragen. Aber ich werde sie nach Weißenfels auf die Burg bringen, wenn wir aufbrechen. Dort ist sie sicher … sollte die Sache schiefgehen.«
Das hatte er sofort entschieden, als sie begannen, ihren Plan zu entwickeln. Er fragte gar nicht erst, ob Lukas seiner Frau davon erzählen würde. Marthe würde es wissen, auch ohne Worte. Raimund unterdrückte den heftigen Wunsch, den Freund zu bitten, seine Frau nach dem möglichen Ausgang ihres Vorhabens zu fragen. Er wollte weder eigenen Leichtsinn schüren noch die Sache von vornherein als verloren betrachten.
Es war ein tollkühnes Vorhaben, und die Aussicht gering, dass sie lebend entkamen. Doch jetzt ging es einzig darum, Albrecht zu hindern, die ganze Mark Meißen in Flammen aufgehen zu lassen.
Sie berieten eine Weile, wen sie mitnehmen und auf wen sie in Freiberg vertrauen konnten.
»Ich würde gern lauter Männer dabeihaben, die sich Christian verpflichtet fühlen und die zu seinem Begräbnis kamen. Lass uns diese Sache ihm zu Gedenken wagen, dann ist er gerächt«, erklärte Lukas und nannte gleich die ersten Namen: Georg und David. Die beiden jungen Ritter waren einst Knappen bei Christian und ihm gewesen.
»Peter von Nossen«, empfahl Raimund.
»Wenn er mitmacht, sind auch seine Brüder Tammo und Johannes dabei.« Die drei Nossener Brüder hielten sich demonstrativ vom Meißner Hof fern. Es gab Streit zwischen ihnen, dem Fürsten und dem Bischof, weil der alte Markgraf Otto dem nahen Kloster ein Stück Land zugesichert hatte, das ihnen gehörte.
»Boris von Zbor«, schlug Raimund als Nächsten vor.
»Ein Slawe?«
»Ein guter Mann, unglaublich mit dem Schwert. Er steht treu zu den Nossener Rittern«, versicherte der Muldentaler. Im Gebiet von Nuzzin oder Nossen, wie es auch genannt wurde, waren von jeher mehrere slawische Adelsgeschlechter ansässig.
Und dann stellte Raimund die Frage, die ihm die ganze Zeit schon auf den Nägeln brannte: »Wirst
du
es
Dietrich
sagen?«
Lukas schien darüber bereits nachgedacht zu haben, so schnell und entschlossen kam seine Antwort.
»Wir können ihn nicht in diese Sache hineinziehen – das wäre Brudermord. Aber wir können etwas, das ihn in solchem Maße betrifft, auch nicht hinter seinem Rücken tun. Ich sage es ihm unmittelbar vor unserem Aufbruch.«
Er lehnte Elisabeths Angebot ab, mit ihnen zu Abend zu essen. Nachdem er nun diese Entscheidung auf Leben und Tod gefällt hatte, wollte er so schnell wie möglich zurück nach Weißenfels, um seine Angelegenheiten zu regeln.
Marthe hatte schon den ganzen Nachmittag über Ausschau gehalten, wann Lukas wohl von seinem überraschenden Aufbruch zu einem unbekannten Ziel zurückkehren würde. Es war ein ungewöhnlicher, ihrem Gefühl nach unheilkündender Zwischenfall, seit sie hier seit einem Jahr auf Weißenfels lebten. Nur Lukas’ Söhne waren in Eisenach geblieben. Beweggrund für ihren Weggang war nicht nur ihre Verbundenheit mit Ottos jüngerem Sohn, sondern auch die gemeinsame Sorge um Clara. Es war schwer gewesen, sie wenigstens ein Stück weit aus der schlimmsten Betrübnis zu reißen, in die sie nach der Geburt des kleinen Konrad gestürzt war. Jetzt lebte sie mit den Kindern in Weißenfels und musste ertragen, noch dazu ohne sich ihren Kummer ansehen zu lassen, wie Jutta von Thüringen ihren Platz an Dietrichs Seite einnahm – an der Tafel, auf Reisen und vielleicht auch im Bett. Es hatte noch keine Feier anlässlich des Vollzuges der Ehe gegeben. Für Marthes kundigen Blick wirkte die Landgrafentochter auch immer noch wie ein Kind, nicht wie eine Frau, die bereits die Liebe erfahren hatte. Doch nun waren Dietrich und Jutta schon fast ein Jahr miteinander verheiratet, und irgendwann würde es geschehen.
Da von Lukas immer noch nichts zu sehen war, beschloss Marthe, ihre Tochter aufzusuchen. Was sie noch
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