Der Traum der Hebamme / Roman
oder weil der Feldscher darauf bestand, erst zu beten, statt eine Aderpresse anzulegen.
Doch das Gelübde der Keuschheit …
Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, enthaltsam leben zu müssen, auch wenn das jetzt von ihm als Wallfahrer erwartet wurde. Daran hielten sich ohnehin nur die wenigsten im Lager. Die überbordenden Berichte der Männer über die Ausschweifungen in den hiesigen Hurenhäusern vertrieben ihm jegliche Neigung, eines aufzusuchen. Aber für immer der Lust zu entsagen, die eine Frau im Bett bereiten konnte? Und der Erleichterung? Das war für ihn undenkbar.
Im Spital der Deutschen am Sankt-Nikolaus-Tor faszinierten ihn die morgenländischen Behandlungsmethoden, die ihm Notker mit großer Geduld erklärte, während er seinen Pflichten nachging.
So erfuhr Thomas zu seinem großen Erstaunen, dass man hier keinesfalls heißes Pech über blutige Arm- oder Beinstümpfe goss wie allgemein üblich, sondern Essig oder Wein, weil das die Heilungsaussichten verbessere. Wie zur Bestätigung hatte Thomas miterleben müssen, dass die zwei Plünderer aus Markgraf Konrads Lager, denen man die Hand abgeschlagen hatte, hier um Hilfe nachgesucht hatten, aber schon bald an Fieber und Wundbrand unter Qualen starben.
Er war ganz begierig darauf, von Notker zu lernen, und freute sich auf den Tag, an dem er seiner Mutter und seiner Schwester davon erzählen konnte. Hatten beide nicht immer schon davon geträumt, mehr über die berühmten Heilmethoden der Juden und der Sarazenen zu erfahren?
Mit Notker konnte er auch über Gott reden, über seine Zweifel, darüber, dass seine Seele weder Ruhe noch Freude finden wollte, dass seine letzte Hoffnung Jerusalem war. Vielleicht würde ja dort ein Wunder geschehen, selbst wenn er keine Vorstellung hatte, wie das aussehen sollte.
Dann pflegte der kleine Mönch den Kopf zu neigen, ihn durchdringend anzusehen und weise lächelnd etwas in der Art zu sagen wie: »Was Ihr sucht, mein Freund, steckt nicht an einem anderen Ort, sondern in Euch selbst. Dort müsst Ihr suchen, und nur dort werdet Ihr finden.«
Dabei dachte Thomas an Clara, die einmal gesagt hatte, ihm sei ein Stück seiner Seele verlorengegangen. Und dass Notker einmal gespottet hatte, er sei wirklich ein ungläubiger Thomas.
Doch es gab noch etwas außer der Heilkunde und den Gesprächen mit Notker, das ihn ins deutsche Hospital lockte: ein Mädchen. Vielleicht war es auch eine junge Frau, denn sie trug das Haar bedeckt, wenngleich sie noch weit unter zwanzig zu sein schien und ihre Erscheinung zart und mädchenhaft wirkte.
Seit zwei Wochen saß sie fast jedes Mal, wenn er kam, am Bett eines kranken alten Mannes, den offensichtlich der Schlag getroffen hatte und der sich kaum regen und nicht mehr sprechen konnte. Vermutlich war es ihr Vater. Dass sie mit solch einem Greis verheiratet sein konnte, hielt Thomas für undenkbar. Vorsichtig flößte sie dem Kranken zu trinken ein, kühlte seine Stirn, und wenn er schlief, kümmerte sie sich im Einvernehmen mit den Brüdern auch um andere Hilfsbedürftige.
Einmal stand Thomas ganz in der Nähe, als sie Notker ein kleines Behältnis mit getrockneten Blütenblättern übergab, und stellte überrascht fest, dass sie Deutsch sprach, wenn auch gebrochen. Er hatte sie für eine Einheimische gehalten. Sie besaß das schwarze Haar und die dunklen Augen, die fein geschnittenen Gesichtszüge der hiesigen Frauen. Ein wenig erinnerte sie ihn an die Frau aus seinem Traumgespinst aus Antiochia. Aber sie war aus Fleisch und Blut, auch wenn sie ihn noch kein einziges Mal angesehen hatte.
Als Notker die Heilpflanzen in die Kräuterkammer brachte, wagte Thomas zu fragen: »Wer ist sie?«
»Wer? Eschiva?«, meinte der kleine Mönch beiläufig.
Eschiva, dachte Thomas, wie schön das klingt!
»Sie ist die Frau des alten Godwin«, gab Notker Auskunft. »Sie kamen aus Jerusalem hierher, nach dem Fall der Stadt vor zehn Jahren. Godwin ist ein Nachfahre des Mannes, der dort vor beinahe hundert Jahren das deutsche Spital gründete. Hier half er uns beim Aufbau unserer Gemeinschaft. Er handelt mit seltenen Gewürzen und Heilpflanzen. Und jetzt, da er so krank ist, soll er die beste Pflege bekommen.«
Sie ist die Frau dieses Alten?, dachte Thomas bestürzt, während die anderen Worte Notkers an ihm vorbeirauschten.
»Sie stammt doch nicht aus deutschen Landen?«, bohrte er nach.
»Nein, soweit ich weiß, waren ihre Eltern armenische Christen, die in Jerusalem lebten. Die
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